Journal

Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.

Mutanten Machen Bücher

Manuel Cirauqui, María Mur Deán
2022-10-20

Online-Gespräch

Angela Lühning, Carl Haarnack, Oliver Hardt & Willem de Rooij
2021-05-20

L'Esprit—Absolventenausstellung 2020

Louisa Behr und Johanna Weiß
2020-09-18

Zahl & Kopf

Levi Easterbrooks, Janique Préjet Vigier
2018-02-06

Portikus XXX Summer Screening Program

Levi Easterbrooks
2017-09-25

WE THE PEOPLE – Die Bewahrung der Freiheit

Cosima Anna Grosser
2017-04-25

"Oh my god, this is another kind of code language!"

Amy Sillman, Bernard Vienat
2016-08-17

Ein Narrativ für den Körper: Present Sore von Shahryar Nashat

Isla Leaver-Yap, Shahryar Nashat, Fabian Schöneich
2016-04-22

Fermentierte Gegenwart

Franciska Nowel Camino
2023-02-24

Logbuch Diversion

Liberty Adrien, Carina Bukuts, Rand Elarabi, Nils Fock, Maria Guhr, Rabika Hussain, Mary Bom Kahama, Blaykyi Kenyah, Hanna Launikovich, Nelli Lorenson, Hemansingh Lutchmun, francisco m.v., Hilda Stammarnas, Elsa Stanyer, Amina Szecsödy, Yuxiu Xiong
2022-06-23

In the Mood for Bengawan Solo

Paula Kommoss, Arin Rungjang
2018-09-17

Im Verborgenen

Carina Bukuts
2017-12-21

Textil als Medium der zeitgenössischen Kunst

Olga Inozemtceva
2017-05-18

Zwischen Stillstand und Bewegung

Malina Lauterbach, Maximilian Wahlich
2017-01-29

Der Körper, der Sockel

Marina Rüdiger
2016-05-31

H[gun shot]ow c[gun shot]an I f[gun shot]orget?

Lawrence Abu Hamdan
2016-04-19

Spotting the Shottspotter: Foto eines Shotspotter Mikrofons, installiert an einer Strassenlaterne. Courtesy der Künstler.



Im Dezember 2014 tauchten neue Audio-Beweise auf, die den Augenblick festhalten, als der unbewaffnete Teenager Michael Brown im August desselben Jahres in Ferguson, Missouri, erschossen wurde. Die Aufnahme wurde von einem ungenannten Mann vorgelegt, der den Moment der Erschießung zufällig festgehalten hatte, als er mit der App Glide eine private Sprachnachricht aufnahm und verschickte. Erst später erkannte er die Bedeutung dieser zufällig aufgenommenen Schüsse.



In dem Mitschnitt ist zu hören, dass Browns Mörder, ein Polizeibeamter namens Darren Wilson, seine Waffe zehn Mal abfeuerte. Sechs dieser Schüsse trafen Brown, die meisten davon in den Kopf (alle oberhalb des Oberkörpers). Doch die Aufnahme hält auch eine andere, unvermutete Form der Gewalt fest – die die Zuhörer, seien es CNN-Zuschauer oder das Schwurgericht, zu ignorieren gebeten wurden. Während sowohl die Verteidigung wie die Anklage Audiosachverständige beauftragten, ihre jeweiligen Erkenntnisse über die Schüsse mitzuteilen, die im Hintergrund dieses Mitschnitts zu hören waren, erkannte keiner der beiden, dass die größere Polizeigewalt, die sich gegen die Bewohner von Ferguson und vieler anderer afroamerikanischer Viertel in den Vereinigten Staaten richtet, im Vordergrund und für alle deutlich zu hören war.

Das Folgende ist eine Transkription des Mitschnitts einschließlich der Vorder- und Hintergrundgeräusche:

„You are pretty. [6 Schüsse] You’re so fine. Just going over some of your videos. [Schuss] H[Schuss]ow c[Schuss]an I f[Schuss]orget?“

Dr. Robert Showen war einer der zentralen sachverständigen Hörer in diesem Fall. Seine Analyse der Schüsse konzentrierte sich vor allem auf den Widerhall, den sie erzeugten. Mittels des Impulsschalls der Schüsse und deren Reflexionen von den umliegenden Wänden konnte er den Raum um den Schützen herum definieren. Die klangliche Ähnlichkeit der einzelnen Schussechos ließ den Schluss zu, dass der Mörder sich nicht bewegte und bei der Abgabe der Schüsse mehr oder weniger am selben Ort verblieb. Diese Indizien stützten einige der Zeugenaussagen und waren außerdem von entscheidender Bedeutung, um den Wahrheitsgehalt anderer widersprechender Aussagen zu bestreiten. Technische Details, die sich letztlich zu einer umfangreicheren Beweislage verdichteten, welche darauf schließen ließ, dass der unbewaffnete Michael Brown den Beamten angegriffen hatte, der daher in Notwehr handelte, als er Brown mehrfach in den Kopf schoss.

Die Berufung von Dr. Robert Showen als Gutachter erfolgte aufgrund seiner umfangreichen praktischen Erfahrungen mit dem Schall von Schüssen zur Echoortung. Showen ist der Gründer und Entwickler von ShotSpotter™, einem System zur Detektion und Ortung von Schüssen, das mithilfe von Mikrofonen funktioniert, die über ein ganzes Viertel verteilt installiert werden und auf Geräusche von der Straße lauschen, bei denen es sich um Schüsse handeln könnte. Sobald die Mikrofone einen lauten Knall registrieren, bestimmen sie durch Triangulation automatisch seinen Herkunftsort. Auf Grundlage einer umfangreichen Datenbank mit lauten Knallgeräuschen werden die Daten algorithmisch analysiert, um unverzüglich festzustellen, ob es sich bei dem registrierten Geräusch tatsächlich um einen Schuss handelt. Wenn das System entsprechend entscheidet, sendet es die Ortsangabe des Schusses an die jeweilige Polizeidienststelle. Die Genauigkeit beträgt durchschnittlich 10 Meter. Das ShotSpotter™-System von Mikrofonen ist heute in achtzig „Problem“-Vierteln überall in den Vereinigten Staaten installiert. Das Unternehmen ist bestrebt, auch jenseits des Atlantik tätig zu werden, hat bereits Systeme in Südafrika installiert und erkannte nach den jüngsten Angriffen in Paris (im November 2015) die Gelegenheit für sich, den europäischen Markt zu erobern.

Dr. Robert Showen erklärte mir einem Interview, dass die ShotSpotter™-Mikrofone üblicherweise auf Gebäudedächern installiert werden, sodass man „dem Horizont zuhören“ könne. „Sie befinden sich also meistens auf Privatgrundstücken?“, fragte ich. Seine Antwort lautete: „Ja, wir waren gemeinsam mit der Polizei unterwegs, haben an Türen geklopft und die Bewohner um ihre Erlaubnis gebeten, an ihrem Haus einen Sensor anzubringen, um einen Beitrag zum Schutz der Gemeinschaft vor Schüssen zu leisten, und beinahe jeder willigte ein. […] Alle waren bereit, im Interesse der Gemeinschaft ihre Dächer zur Verfügung zu stellen.“ Showens Aussage, dass „alle bereit waren“, schien im Widerspruch zu der ganzen Rhetorik des ShotSpotter™-Systems zu stehen, dessen Notwendigkeit als Sicherheitsinfrastruktur damit begründet wird, dass die von Waffenkriminalität betroffenen Gemeinschaften aus unzuverlässigen Zeugen bestehen, die über achtzig Prozent der wahrgenommenen Schüsse nicht melden. Dem Konzept zufolge soll ShotSpotter™ diese unaufrichtigen Ohren also durch gesetzestreue Mikrofone ersetzen und die achtzig Prozent der zuvor nicht gemeldeten Schüsse algorithmisch erfassen. Showen sagt: „Die Empfindlichkeit der Mikrofone unserer Sensoren entspricht beinahe der eines Mobiltelefons oder einer Freisprecheinrichtung.“ Doch im Allgemeinen ist das menschliche Gehör viel empfindlicher und viel besser für die Interpretation von Geräuschen geeignet als das auf einem Dach installierte Mikrofon eines Mobiltelefons. Das Problem ist also nicht, dass die Menschen die Schüsse im Gegensatz zu den Mikrofonen nicht hören würden, sondern vielmehr, dass die Menschen die Schüsse hören und sich dann dagegen entscheiden, sie der Polizei zu melden. Diese erstaunlich hohe Zahl nicht gemeldeter Vorfälle legt nahe, dass die Polizei, wie im Fall von Michael Brown und Hunderten anderer seither, gefährlicher, rassistischer und schießwütiger sein kann als die Alternative. Auf diesen Gedanken scheint Showen nicht zu kommen, wenn er über die brutale Einweihungszeremonie berichtet, die in jedem Viertel im Zuge der Installation von ShotSpotter™ stattfindet: „Wenn wir ein System installieren, lassen wir die Polizei durch die Straßen ziehen und Schüsse abgeben, und wir können dann sehen, mit welcher Exaktheit und Empfindlichkeit unser System arbeitet.“

Es ist keine Überraschung, dass Showen beim kriminaltechnischen Anhören des Mitschnitts von Michael Browns Tod den lautesten Aspekt überhört: die liebestrunkene Stimme, die trotz des Klangs der Schüsse, die laut vor dem Fenster erschallen, unbeeindruckt damit fortfährt, eine Botschaft an das Objekt seiner Begierde zu senden. Ohne wahrzunehmen oder vielleicht ohne sich darum zu bekümmern, dass die Liebesbotschaft, die er verschickt, von den Klängen brutaler Gewalt untermalt wird. „Du bist wunderschön“, sagt er, und darauf folgt eine kurze Pause, lang genug für eine Salve von sechs Schüssen, dann eine kurze Unterbrechung der Schüsse, und er fährt fort mit: „Du bist so zart.“ Bedeutet diese kurze Pause, dass er die Schüsse zur Kenntnis nimmt? Wartet er darauf, dass sie verstummen, damit er mit seiner Botschaft fortfahren kann? Vielleicht wie die Pause, die wir bei einer Unterhaltung machen würden, wenn ein Flugzeug über unsere Köpfe hinwegfliegt? Oder handelt es sich bei dieser Pause um bloßen Zufall, und er ist einfach völlig unempfindlich gegenüber dem Klang von Schüssen vor seinem Fenster geworden? Auf jeden Fall wird diese Stimme, die diesen sehr lauten Klang ignoriert, anstatt die Notfalldienste zu alarmieren, im Gerichtssaal als irrelevant behandelt. Doch ironischerweise bietet gerade diese Stimme, die die Geschworenen nicht beachten sollten, die beste Möglichkeit, um das Ausmaß der Gewalt in diesen Vierteln und das allgemeine Misstrauen gegenüber der Polizei zu verstehen.

Future, March Madness [prod by Tarantino], von dem mixtape 56 Nights 2015.



Häufig wird die Besorgnis geäußert, ShotSpotter™ könne eine Verletzung des vierten Zusatzartikels zur Verfassung darstelle – als willkürliche Fahndung nach und Festsetzung von öffentlichen Klängen. Eine tief in den Alltag eindringende Überwachungsmethode, die dazu genutzt werden könnte, um private Gespräche aufzunehmen und so ein gewaltiges Tonarchiv zusammenzutragen, das allen möglichen Sicherheitsanwendungen zur Verfügung stünde. Doch die Datenschutzrichtlinie von ShotSpotter™ besagt: „Das System ist bewusst so gestaltet, dass es ‚Zuhören in Echtzeit‘ nicht erlaubt. Die Sensoren von ShotSpotter werden nicht durch menschliche Stimmen ausgelöst.“ Und vielleicht ist dies die beängstigendere Möglichkeit: dass sie sich für menschliche Stimmen überhaupt nicht interessieren. Dass ShotSpotter™ nicht auf eine neue über-überwachte Gesellschaft verweist, in der alles mitgehört wird, was wir sagen, sondern vielmehr auf eine Gesellschaft, in der ein völliger Mangel an Zuhören herrscht. Dass je mehr die Überwachung ihre Tonarchive und Audiodatenbanken vergrößert, desto weniger Menschen tatsächlich gehört werden. Und wenn wir der Stimme in dem Mitschnitt des Mordes an Michael Brown zuhören statt an ihr vorbei, wird das Ausmaß dieser gesellschaftlichen Taubheit deutlich hörbar – eine Taubheit von Gemeinschaften gegenüber Waffengewalt, eine Taubheit der Polizei gegenüber sogenannten „Problem“-Vierteln und eine Taubheit der Richter und Gesetzgeber gegenüber den sozialen Bedingungen, die unzuverlässige und uninteressierte Zeugen hervorbringen.

Die Analyse der Schüsse, die Michael Brown getötet haben, hat nicht zu seinen Gunsten gewirkt, weil die Bedingungen des Zuhörens durch dieselben Mächte bestimmt werden, die die Ungerechtigkeit gegen ihn verübt haben. Doch was könnte uns ein Shotspotter ermöglichen, dessen Mikrofone sich gegen die Polizei richteten statt gegen die Menschen? Die Technik ist vorhanden, sie wurde bereits installiert, bevor wir davon Kenntnis hatten, und obwohl sie in achtzig Vierteln jeden einzelnen Schuss aufgenommen hat, gab es keinen einzigen Fall, in dem sie als Beweismittel für die strafrechtliche Verfolgung eines Polizisten genutzt worden wäre. Wie würde es klingen, wenn wir diese riesige Datenbank von Polizeischüssen anhören könnten, statt sie nur in den unempfindlich gemachten und terrorisierten Gemeinschaften erschallen zu lassen, in denen sie so häufig vorkommen. Anstatt die Wahrung unserer Privatsphäre zu verlangen und diese Technik abzulehnen, sollten wir vielmehr verlangen, dass mehr zugehört wird, dass mehr archiviert wird, um ihre selektiven Ohren gegen sie selbst zu verwenden. Eine alternative Audiodatenbank aufbauen, aus der dieses System eine künstliche Intelligenz gegenüber einer anderen Realität der Gewalt entwickeln kann.

Zuerst online gestellt am 12. Februar 2016, L’internationale online.
Übersetzung: Robert Schlicht