Journal

Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.

Fermentierte Gegenwart

Franciska Nowel Camino
2023-02-24

Logbuch Diversion

Liberty Adrien, Carina Bukuts, Rand Elarabi, Nils Fock, Maria Guhr, Rabika Hussain, Mary Bom Kahama, Blaykyi Kenyah, Hanna Launikovich, Nelli Lorenson, Hemansingh Lutchmun, francisco m.v., Hilda Stammarnas, Elsa Stanyer, Amina Szecsödy, Yuxiu Xiong
2022-06-23

Jochen Lempert, Johannisbeeren, 2019, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona

Niemand ist gedankenloser als ein Lemming, hinterlistiger als eine Katze, sabbernder als ein Hund im August, stinkender als ein Ferkel, hysterischer als ein Pferd, idiotischer als eine Motte, schleimiger als eine Schnecke, giftiger als eine Viper, weniger phantasievoll als eine Ameise und weniger musikalisch als eine Nachtigall. Einfach ausgedrückt: Wir müssen diese und andere Tiere für das, was sie sind, lieben – oder, wenn das ganz und gar unmöglich ist, zumindest respektieren. 1
— Umberto Eco

Jochen Lemperts Fotografien beginnen mit einer Begegnung, dem Zusammentreffen realer oder künstlicher Darstellungen von Pflanzen und Tieren in städtischen oder ländlichen Umgebungen, Museumsausstellungen, wissenschaftlichen Büchern oder auf der Kleidung eines Passanten. Flora und Fauna in seinen Bildern scheinen zu interagieren, neigen sich zur Kamera oder verhalten sich völlig gleichgültig gegenüber seiner Anwesenheit. Diese Bilder haben Lempert Anerkennung als Künstler eingebracht, der sich für die Art und Weise interessiert, wie die Natur für uns gegenwärtig wird. Diese scheinbar unauffälligen Begegnungen des Alltags werden, sobald sie fotografiert sind, zu großartigen Trägern von Enthüllungen, die von der Darstellung der schelmischen Natur der Tiere bis hin zu den majestätischen Schatten reichen, die das von der Sonne geküsste Blätterwerk wirft. Lemperts Bilder haben eine Leichtigkeit, eine Nähe, die davon zeugt, dass er sich mit den kleinsten Insekten oder zerzausten Vögeln wohlfühlt, die uns Zugang zu ihrer Existenz gewähren. In seinem Werk werden Ähnlichkeiten zwischen Organismen, himmlischen oder irdischen Phänomenen mit emotionaler Intelligenz betrachtet und zum Ausgangspunkt für Bilder, welche die Verbundenheit der Natur offenbaren. Sein Interesse an wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Biologie und dem Verhalten von Tieren, schlägt sich in Bildern mit metaphorischem, assoziativem und politischem Scharfsinn nieder und ermöglicht, fast intim auf andere Arten zu blicken, mit denen wir das Leben auf diesem Planeten teilen.

Jochen Lempert, Installationansicht, Portikus, 2022, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: der Künstler, BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona; Fotografie: Diana Pfammatter

Seit drei Jahrzehnten verfolgt Lempert mit bemerkenswerter Konsequenz und Einfallsreichtum den Grundgedanken, Bilder nur nach einem Prinzip der Notwendigkeit zu machen. Obwohl er dafür bekannt ist, stets eine Kamera in der Jackentasche zu tragen, findet der Akt des Bildermachens bei ihm erst lange nach dem ersten Klick des Auslösers statt. Der Großteil seiner Arbeiten entsteht nicht auf Kontaktbögen. Er wählt direkt von den Negativen aus, wobei er oft nur ein Drittel oder weniger der Bilder einer Rolle verwendet. Mit Hilfe von Arbeitsabzügen, die er im Format A5 oder kleiner anfertigt, mischt er verschiedene Varianten und studiert sie, bevor er sich auf eine bestimmte Größe, einen bestimmten Ausschnitt oder ein bestimmtes Licht festlegt. Eine Folge dieses akribischen Bearbeitungsprozesses ist, dass das Sehen selbst zum Gegenstand der Arbeit und zur Methode des Zeigens wird. Jedes von Lemperts Werken ist die Summe allmählicher Entscheidungen, die zur Entstehung eines Bildes führen. Seine Fotografien, in erster Linie Silbergelatineabzüge, werden von ihm in seinem Atelier in analogen Farbschemata von Grautönen auf mattem, strahlend weißem Barytpapier selbst entwickelt und bleiben ungerahmt, wenn sie an die Wand geklebt oder in Vitrinen ausgestellt werden. Ob für eine Ausstellung oder eine Publikation, Lempert zieht es vor, ältere und neuere Werke nahtlos zu kombinieren
und so ein Werk zu schaffen, das eng miteinander verknüpft ist, bewusst anachronistisch, und in welchem Entscheidungen über Paarungen und Gruppierungen durch einen relationalen Antrieb eingefügt und neu formuliert werden. Diese assoziative Herangehensweise an das Kunstwerk findet sich auch in den Titeln seiner Werke wieder, wobei er einzelne Substantive oder beschreibende Sätze bevorzugt, die der Betrachterin unnötige Ablenkungen ersparen sollen, um die Erfahrung vor dem Bild auf das zu beschränken, was der Künstler als etwas bezeichnet, „das man im Moment des Sehens stark spürt“ 2

Jochen Lempert, Schmetterlingshafte, 2019, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin und ProjecteSD, Barcelona

Auf dem Spielfeld der zeitgenössischen Kunst ist Lempert ein begnadeter Außenseiter. Seit Anfang der 1990er Jahre stellte er seine Arbeiten in Köln und Hamburg aus, und abgesehen von gelegentlichen thematischen Gruppenausstellungen zirkulieren sie vor allem in den Sphären der Fotografie, wenn auch mit Argwohn hinsichtlich seines unkonventionellen Umgangs mit dem Medium. Sein gleichzeitiges Einbeziehen verschiedener fotografischer Verfahren, von der Augenblicklichkeit bis zur Inszenierung, die er durch die wiederkehrende Verwendung von Multiples in sequenzieller Reihenfolge miteinander in Einklang bringt, positioniert das Werk unabhängig von üblichen Kategorisierungen. Ein weiteres Kuriosum im Zusammenhang mit der öffentlichen Rezeption von Lemperts Praxis, und besonders in seiner Verwendung einer 35-mm-Kamera, ist die wiederholte Bezugnahme auf die wissenschaftlichen Qualifikationen des Künstlers. Sein Name wird in der Regel von Titeln begleitet, die ihm eine zusätzliche Ebene der Außergewöhnlichkeit verleihen: Biologe, Odonatologe, Entomologe oder Ornithologe. Es ist zwar kein Geheimnis, dass er von Zeit zu Zeit wissenschaftliche Berichte verfasst hat, doch wie weit diese Studien von seiner Arbeit entfernt sind, wird durch ihr völliges Fehlen in seinen Ausstellungen und Monografien bestätigt. Dass derartige Klassifizierungen für den Künstler von Belang sein könnten, ist eher unwahrscheinlich. Lempert interessiert sich wenig für nachweisbare Fakten und auch sein Arbeitsprozess wird nicht von festen Strukturen oder Theorien bestimmt, sondern ist ein offenes System, in dem, wie er bemerkte, „[d]ie Suche […] ein großer Teil des ganzen Projekts [ist]“ und in dem unbegrenzte Ergebnisse in jedem Schritt des Weges plausibel sind.3 In seiner fotografischen Arbeit schweigt Lempert aktiv zu den Naturwissenschaften. Anstatt seine wissenschaftlichen Kenntnisse auf das anzuwenden, was er fotografiert, lädt er visuell zur Bedeutungsfindung durch den Akt des Sehens ein – den Akt des Sehens von dem, was abgebildet ist und darauf wartet, sichtbar zu werden.

Ein weiterer auffälliger Aspekt innerhalb von Lemperts Praxis ist sein Atelier oder vielmehr dessen Wände, die eine große Anzahl kleinerer Hohlräume aufweisen, die von den Reißnägeln herrühren, die er zum Anheften von Arbeitsabzügen verwendet. Die in verschiedene Richtungen verlaufenden Spuren zeigen seine jahrzehntelange Suche nach einem Bild. Die Platzierung der Abzüge an der Wand wechselt zwischen Einzelfotografien, symmetrischen Gruppierungen, bei denen gleichgroße Abzüge zu Duetten, Quartetten oder zweigliedrigen Rastern mit nur wenigen Zentimetern Abstand gepaart werden, und asymmetrischen Paarungen, bei denen Abzüge unterschiedlichen Maßstabs im Dialog, jedoch im Abstand einer Armlänge zueinander platziert werden. Die verschiedenen Kombinationen und Konfigurationen, die im Atelier entstehen, beeinflussen die Improvisationen, die auf den Wänden der Ausstellungsräume umgesetzt werden. Aber dies ist nur ein Aspekt seiner Suche. Ein weiterer wichtiger Teil des Prozesses findet in der Dunkelkammer statt, bevor ein Abzug an die Wand kommt. Der Künstler hat es so erklärt: „Es geht eigentlich immer darum, anhand des Fotos etwas zu sehen oder auf dem Foto etwas zu sehen. Manchmal braucht man dazu mehrere Bilder, damit etwas zusammenkommt. Und manchmal reicht nur eins.“ 4

Jochen Lempert, Installationansicht, Portikus, 2022, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona; Fotografie: Diana Pfammatter

Wenn die Wand die Bühne ist, auf der Lempert probt, dann sind die kleinen Pappschachteln mit den Arbeitsabzügen, die in den Regalen stehen, das Casting. Hunderte von Abzügen in der Größe von Karteikarten sind in Sammlungen gruppiert, geordnet nach einzelnen Wörtern in deutscher Sprache, die eilig auf Notizzettel geschrieben wurden und zum Beispiel lauten: H2O, Pferde, nur Bienen, Tauben, Pflanzen, Himmel, Wind. Andere gehören eher zu metaphorischen Kategorien, die auf bestimmte Konstrukte anspielen, wie: Bildlogik, Symmetrie, Sinne und Gestalt. Lemperts Sammlung von Arbeitsabzügen funktioniert anders als ein Aufbewahrungsort; sie hat sich zu einem Lexikon entwickelt, das er verwendet, modifiziert und von dem er entlehnt, um das zu schaffen, was er „Konstellationen“ nennt, in denen die Art der Präsentation an einer Wand oder in einem ganzen Raum einen Dialog etabliert. Wenn die Arbeitsabzüge ihm Antworten auf die Frage geben, welches Bild behalten werden soll, erweitern die daraus resultierenden Gruppierungen die Bedeutungskonstruktion durch Gegenüberstellungen und Vergleiche. Lempert geht durch hypothetische Platzierungen intuitiv vor und unterscheidet die Bilder nach keinem vorgefassten Plan. Daher sind alle Szenarien provisorisch, außerhalb der Chronologie stehend und der schnellen Überraschung einer Erscheinung unterworfen. Auch wenn es Paare gibt, die sich durch seine Improvisationen ergeben, ist jede seiner Installationen ortsspezifisch, d. h. vor Ort inszeniert und darauf ausgerichtet, Verständnis gerade für ihre flüchtige und austauschbare Bedeutung zu erzeugen, die permanent gegenwärtig ist.

Im Zentrum von Lemperts Arbeit steht eine radikale Ökologie, die durch eine Praxis des Verstandes, der Hände und der Augen gekennzeichnet ist. Durch die Verwendung von Bildern, bei denen die Welt kein Ort ist, den es zu erfassen gilt, sondern ein Terrain der Korrespondenz, macht er Begegnungen mit der Natur und nicht-menschlichen Wesen sichtbar, bei denen eine Übertragung und Koexistenz stattfinden. Lemperts Annäherung an die Natur aus furchtloser Nähe ist herzlich und respektvoll, doch vor allem einfühlsam. Seine Bilder lehren uns nicht, was wir betrachten sollen, sondern wie wir die Arten, mit denen wir auf diesem Planeten zusammenleben, sehen können. Seine Interaktion mit der Umgebung spiegelt sich auch in seiner Suche nach Beziehungen in den Bildern wider. Für Lempert ersetzt die Fotografie die Erfahrung der Natur nicht unbedingt als Natur in Abwesenheit, sondern visualisiert sie als Präsenz. Unsere Wahrnehmung konvergiert mit Lemperts intimer Nähe zu seinen Motiven, wenn wir uns ihm in der Bejahung der Würde aller Lebewesen anschließen. Seine sich überschneidenden Interessen in Kunst und Wissenschaft konvergieren in seinem Werk als Darstellungen, die von der Welt, die wir bewohnen, nicht getrennt sind, sondern eher zu ihr gehören, so dass die Fotografie als Blätterwerk der menschlichen Erfahrung erscheint.

Aus dem Englischen übersetzt von Holger J. Jakob

1 Umberto Eco, „Wie man von Tieren spricht“,in: Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge. Aus dem Italienischen übersetzt von William Weaver. New York: A Helen and Kurt Wolff Book 1994, 215.
2 Jochen Lempert, zitiert nach Daniel Völzke, „Künstler Jochen Lempert im Porträt: Versöhnte Welt“, Monopol Online, 27. November 2017, unter: www. monopol-magazin.de/jochen-lempert-portrait-sprengel-museum.
3 Jochen Lempert, „Jochen Lempert. Bei aller Neigung zum Festhalten verteilt sich so alles“, Interview von Lighting the Archive, initiiert von Heinz Peter Knes, Kristin Loschert, Maren Lübbke-Tidow, Heidi Specker und Rebecca Wilton, 2020, unter: www. lightingthearchive.org.
4 Ibid.

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