Journal

Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.

Mutanten Machen Bücher

Manuel Cirauqui, María Mur Deán
2022-10-20

Online-Gespräch

Angela Lühning, Carl Haarnack, Oliver Hardt & Willem de Rooij
2021-05-20

L'Esprit—Absolventenausstellung 2020

Louisa Behr und Johanna Weiß
2020-09-18

Zahl & Kopf

Levi Easterbrooks, Janique Préjet Vigier
2018-02-06

Portikus XXX Summer Screening Program

Levi Easterbrooks
2017-09-25

WE THE PEOPLE – Die Bewahrung der Freiheit

Cosima Anna Grosser
2017-04-25

"Oh my god, this is another kind of code language!"

Amy Sillman, Bernard Vienat
2016-08-17

Ein Narrativ für den Körper: Present Sore von Shahryar Nashat

Isla Leaver-Yap, Shahryar Nashat, Fabian Schöneich
2016-04-22

Fermentierte Gegenwart

Franciska Nowel Camino
2023-02-24

Ximena Garrido-Lecca, 'Inflorescence', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Jens Gerber

1956 widmete der chilenische Dichter Pablo Neruda der Maispflanze eine Ode. In dieser feierlichen Gedichtform rühmte er die Metamorphosen des Getreides und dessen Einfluss auf das Menschsein. Die „grüne Lanze“, die später von „goldenem Korn“ bedeckt wird, ist ein Symbol der hervorstechenden und kostbaren Pflanze, aber auch Verweis auf die Veränderungen der Maiskultur durch die Kolonialisierung: Eine Waffe bedeutet immer Verteidigung und Schmerz - und Gold weckt Gier. Ab dem 16. Jahrhundert berichteten spanische Chronisten in ihren Überlieferungen über Mittel- und Südamerika von vermeintlichen Landschaften aus Gold. Doch sie hatten die einheimischen Erzählungen missverstanden, die sich mit ihrer Beschreibung nicht auf das Edelmetall, sondern auf Maisfelder bezogen. Noch heute finden sich etwa im urbanen Stadtbild Bogotás Graffitis, die dieses Missverständnis der goldenen Landschaften thematisieren: sie verbildlichen, dass Reichtum als monetärer Wert auf westlichen Weltsichten basiert und somit stark von andinen Ideologien abweicht.

Schon im zweiten Absatz seiner Ode an den Mais formulierte Neruda eine zeitliche Kehrtwende, als er sich selbst ermahnt, statt der „Geschichte im Leichentuch“, das „einfache Korn in den Küchen“ hervorzuheben. Die Künstlerin Ximena Garrido-Lecca (*1980, Lima) setzt in Inflorescence, ihrer Ausstellung im Portikus, genau dort, in den Küchen, dem Alltäglichem an, und vollzieht einen Perspektivwechsel, der bereits bei Neruda anklingt. Über zwei Etagen hinweg lässt sich im Portikus in Frankfurt die kulturelle Bedeutung von Maispflanzen aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachvollziehen. Dabei betont die Künstlerin, wie Mittel- und Südamerika als Ursprungsgebiete der Maiskultur in der Geschichte oft nicht genug Berücksichtigung fanden und arbeitet gegen die in den kolonialen Chroniken dominierende Tendenz die Entwicklungsgeschichte lokaler Pflanzen zu übergehen und somit die landwirtschaftlichen Fähigkeiten und Errungenschaften einheimischer Kulturen abzuwerten.

Ximena Garrido-Lecca, 'Inflorescence', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Jens Gerber

Die Blütezeit von Maispflanzen dauert in Mitteleuropa von Juli bis September. Geerntet werden die Gräser und Kolben bis in den späten Oktober hinein. Für ihre Ausstellung im Portikus reagiert Garrido-Lecca auf die lokalen Bedingungen der Nutzpflanze und stellt sie in unterschiedlichen Erscheinungsformen aus. Ob aufrechtstehende, zu Bündeln zusammengefasste oder an der Wand lehnende Gräser, stabil in Metallrahmen gefasste Maisspindeln, die als Sitzmöglichkeit dienen oder ein mit reifen Kolben bestückter Wandkasten: Mais ist Hauptmotiv und -material von Inflorescence und dient der Künstlerin so als Mittel um über die gegenseitige Einflussnahme von Mensch und Natur zu reflektieren. Überragt werden die Skulpturen aus gebündelten Maispflanzen von Antennen, wie sie aus der Telekommunikation bekannt sind. Sie stechen aus den Bündeln heraus – als wären sie selbst Teil des Trocknungsprozesses. Technik und Natur sind nicht mehr voneinander zu trennen, sondern gehen ineinander über. Die Herausforderungen, die aus dieser neokolonialen Verschränkung resultieren, werden ebenso in den die Ausstellung begleitenden Radioübertragungen vielstimmig besprochen und mit ökologischen, sozialen, biologischen sowie politischen Aspekten vertieft: Der Wunsch nach Sortenvielfalt und ökologischen Anbaumaßnahmen auf der einen, und dem stetig wachsenden Verbreitung von Genmais 1 auf der anderen Seite ist ein Paradox, dessen Ausmaß beim Zuhören greifbar wird. Die Antennen stehen so symbolisch nicht nur für globale Vernetzung, weitreichende Kommunikation und Wissenstransfer, sondern, in ihrem Verhältnis zum Mais, auch für anhaftende Ambivalenzen. Teils strahlenförmig, mal gitterhaft suggerieren deren schimmernden Stäbe ein anthropologisches Ungleichgewicht; materialspezifisch ist klar, dass das Aluminium die Pflanze überdauern wird.

Ximena Garrido-Lecca, 'Inflorescence', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Max Creasy

Die versetzte Zeitlichkeit von Natur und Technik im Kapitalismus wird auch in Bezug auf die traditionsreiche Anwendung von Mais im Alltag deutlich. Mexiko und Peru waren vor fünftausend Jahren die ersten Länder bzw. Regionen in denen Mais domestiziert wurde. Seither ist er tief in die Kulturgeschichte und Kulinarik beider Länder eingeschrieben: Mexiko ist etwa berühmt für seine Mais-Tortillas, Peru für das nahrhafte Kaltgetränk Chicha de Jora, das aus fermentiertem Mais hergestellt wird. Aspekte dieser Weiterverarbeitungen werden in Inflorescence durch einen Mahlstein, oder auf den Stockwerken verteilte Schalen, Teller, Bottiche und Krüge materialisiert. Die Gebrauchsgegenstände stehen für eine fortlaufende Praxis der Maisverarbeitung und -einverleibung als Teil einer Gegenwart, in der sich lateinamerikanische Landwirt*innen politisch für den Erhalt der Traditionen ihrer Gemeinden, die Vielfalt des Saatguts und das Recht auf Ernährungssouveränität einsetzen. Kommunale Formen der Organisation, die in den letzten Dekaden vermehrt vorkommen, leisten hier Widerstands gegen Unterdrückungsdynamiken.

Ximena Garrido-Lecca, 'Inflorescence', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Max Creasy

Deutschland hingegen kann sich nicht auf eine traditionsreichen Maiskultur berufen. Erst seit den 1970er-Jahren wird dort großflächig Mais angebaut – hauptsächlich als Rohstoff, z.B. für Tierfutter, Bioethanol oder Klebstoff. Indem Garrido-Lecca für ihre Skulpturen den Mais aus Nordhessen aus eben jenen Verarbeitungsprozessen herauslöst, verknüpft sie so lokale und globale Aspekte des Ausstellungsortes wie etwa Transportwege oder saisonale Bedingungen miteinander und zeigt ebenso die immensen kulturellen und historischen Unterschiede im Umgang mit natürlichen Ressourcen auf.

Die geografische und zeitliche Linse von Inflorescence, hilft sich in den postkolonialen Diskursen um Mais zurechtzufinden. Diese beinhalten die Frage nach Territorien und Besitzansprüchen, aber auch nach der Aneignung von kulturellen und kulinarischen Traditionen, die auf dem Mais als Nahrungsmittel aufbauen. Das Aufgreifen, Arrangieren und Inszenieren der Pflanzen und -kolben ist demnach von der Künstlerin um die transhistorische und transkulturelle Bedeutung des Mais zentriert, die im mitteleuropäischen Alltag zu großen Teilen ausgeblendet bzw. der kein Gehört geschenkt wird. Auch deshalb stattet Garrido-Lecca die nordhessischen Maispflanzen mit Megafonen aus, die den Portikus mit einem konstanten Wummern akustisch einnehmen. Als Beleg für die jahrtausendealte Maiskultur und deren Zugehörigkeit, funken gleichmäßige Morsecodes eine Erzählung der mexikanischen Maya-Kultur in den Ausstellungsraum, die besagt, dass der Mensch vom Mais abstammt. Damit der Inhalt aber als solcher identifizierbar ist, braucht es einen Schlüssel zum Verständnis, ansonsten bleiben die gemorsten Inhalte lediglich ein hintergründiges Störgeräusch.

Ximena Garrido-Lecca, 'Inflorescence', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Max Creasy

Franciska Nowel Camino ist Kunsthistorikerin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der HfBK Dresden. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der postkolonialen Rezeptionsgeschichte andiner Textiltechniken. Sie studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Archäologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und arbeitete in der Graphischen und Digitalen Sammlung des Städel Museums sowie am Frankfurter Studiengang Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik. Ihre Texte sind bisher in Sammelbänden, Ausstellungskatalogen, Online-Magazinen und dem AKL erschienen.

1 Das 1994 in Kraft getretene Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Lateinamerika begünstigte durch den Abbau von Zolltarifen den Anbau von nordamerikanischem Genmais in Mexiko. Die damit einhergehenden Auswirkungen auf den lokalen Maisanbau führen seither u.a. zu einer irreversiblen Vernichtung von lokalen Maissorten.

Logbuch Diversion

Liberty Adrien, Carina Bukuts, Rand Elarabi, Nils Fock, Maria Guhr, Rabika Hussain, Mary Bom Kahama, Blaykyi Kenyah, Hanna Launikovich, Nelli Lorenson, Hemansingh Lutchmun, francisco m.v., Hilda Stammarnas, Elsa Stanyer, Amina Szecsödy, Yuxiu Xiong
2022-06-23

In the Mood for Bengawan Solo

Paula Kommoss, Arin Rungjang
2018-09-17

Im Verborgenen

Carina Bukuts
2017-12-21

Textil als Medium der zeitgenössischen Kunst

Olga Inozemtceva
2017-05-18

Zwischen Stillstand und Bewegung

Malina Lauterbach, Maximilian Wahlich
2017-01-29

Der Körper, der Sockel

Marina Rüdiger
2016-05-31

H[gun shot]ow c[gun shot]an I f[gun shot]orget?

Lawrence Abu Hamdan
2016-04-19