Journal

Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.

Fermentierte Gegenwart

Franciska Nowel Camino
2023-02-24

Logbuch Diversion

Liberty Adrien, Carina Bukuts, Rand Elarabi, Nils Fock, Maria Guhr, Rabika Hussain, Mary Bom Kahama, Blaykyi Kenyah, Hanna Launikovich, Nelli Lorenson, Hemansingh Lutchmun, francisco m.v., Hilda Stammarnas, Elsa Stanyer, Amina Szecsödy, Yuxiu Xiong
2022-06-23

In the Mood for Bengawan Solo

Paula Kommoss, Arin Rungjang
2018-09-17

Im Verborgenen

Carina Bukuts
2017-12-21

Textil als Medium der zeitgenössischen Kunst

Olga Inozemtceva
2017-05-18

Zwischen Stillstand und Bewegung

Malina Lauterbach, Maximilian Wahlich
2017-01-29

Der Körper, der Sockel

Marina Rüdiger
2016-05-31

H[gun shot]ow c[gun shot]an I f[gun shot]orget?

Lawrence Abu Hamdan
2016-04-19

Mutanten Machen Bücher

Manuel Cirauqui, María Mur Deán
2022-10-20

Online-Gespräch

Angela Lühning, Carl Haarnack, Oliver Hardt & Willem de Rooij
2021-05-20

L'Esprit—Absolventenausstellung 2020

Louisa Behr und Johanna Weiß
2020-09-18

Zahl & Kopf

Levi Easterbrooks, Janique Préjet Vigier
2018-02-06

Portikus XXX Summer Screening Program

Levi Easterbrooks
2017-09-25

WE THE PEOPLE – Die Bewahrung der Freiheit

Cosima Anna Grosser
2017-04-25

"Oh my god, this is another kind of code language!"

Amy Sillman, Bernard Vienat
2016-08-17

Ein Narrativ für den Körper: Present Sore von Shahryar Nashat

Isla Leaver-Yap, Shahryar Nashat, Fabian Schöneich
2016-04-22

Shahryar Nashat, Present Sore, 2016, Video.

Eine der neusten Arbeiten des Künstlers Shahryar Nashat ist Present Sore (2016), ein zusammengesetztes Porträt des Körpers im 21. Jahrhundert, der durch organische ebenso wie künstliche Substanzen vermittelt wird. Im folgenden Interview sprechen Isla Leaver-Yap, Walker-Bentson-Filmwissenschaftlerin, und Fabian Schöneich, Kurator des Portikus, mit Nashat darüber, was seine Arbeit antreibt – die Politik des Körpers, dessen digitale und physische Erweiterungen und seine Obsoleszenz.

Present Sore wird vom 8. April bis 31. Mai 2016 im Rahmen der Walker’s Moving Image Commissions online im Walker Channel präsentiert. Außerdem ist die Arbeit in der Ausstellung Model Malady im Portikus (23. April–19. Juni 2016) zu sehen.

FABIAN SCHÖNEICH: Deine neuste Videoarbeit Present Sore wird online auf dem Walker Channel gestreamt sowie in deiner Ausstellung im Portikus als Installation gezeigt. Die Arbeit hat ein vertikales Format, 9:16 statt 16:9. Das erinnert mich daran, wie die Leute Videos mit ihren Smartphones machen. Kannst du sagen, was dich zu deiner Entscheidung geführt hat, die Kamera zu drehen?

SHAHRYAR NASHAT: Das stimmt – durch Smartphones ist die Verwendung des Hochformats allgemein üblich geworden. Als ich für meine erste Ortsbesichtigung den Portikus besuchte und die Räume sah, erkannte ich sofort, dass ein Video im 16:9-Format durch die Höhe der Räume erdrückt werden würde. Darüber hinaus habe ich immer Schwierigkeiten mit dem Format 16:9 gehabt, weil man das Bild nie ausfüllen kann, wenn man Gliedmaßen vertikal einfangen will. Present Sore ist eine indirekte hochauflösende Figurenstudie eines zusammengesetzten Körpers. Der Aufwärtsverlauf des Videos (von den Füßen zum Kopf) machte das Hochformat notwendig.

SCHÖNEICH: Deine Arbeit befragt und beleuchtet häufig die Homogenität von Objekt und Körper. Abstrakte, aber sterile Objekte stehen repräsentativ für den Körper oder umgekehrt, der Körper steht repräsentativ für das Objekt oder die Skulptur. In Present Sore sehen wir den menschlichen Körper nicht als Ganzes, sondern nur im Detail – etwa in der Nahaufnahme eines Knies oder einer Hand.

ISLA LEAVER-YAP: Absolut. Indem sich Present Sore auf Details konzentriert, fragmentiert es das Subjekt, zeigt die mechanischen beweglichen „Teile“ des Körpers und isoliert deren Funktion als Werkzeuge. Diese Fragmentierung bezieht eine umfassendere kulturelle Landschaft ein, die bestimmte Arten von Körpern bevorzugt, und verweist auch auf eine ökonomische Landschaft, die die Bestandteile der Arbeit unsichtbar macht – sowohl die menschlichen wie die nicht-menschlichen. Ich habe mich gefragt, Shahryar, ob du etwas über diese Eigenschaft des „Zusammengesetztseins“ sagen könntest, über die du eben gesprochen hast, und über die Körper, Typen und Gender, die du zu deinen Sujets machst?

NASHAT: Die vorherrschende kulturelle Repräsentation des menschlichen Körpers privilegiert einen homogenen und ganzheitlichen Körper. Ich habe immer versucht, Körper darzustellen, die sich außerhalb dieser traditionellen Ideale befinden. Die Körper, für die ich mich interessiere, können verschiedene motorische Funktionen haben, kosmetische Eingriffe und Erweiterungen. Wie etwa der verletzte Ellbogen in Hustle in Hand (2014, Video, 19 Min.). Aus diesem Grund mag ich Wunden oder Prothesen. Sie verweisen auf Verletzungen und insofern auf eine Anomalie. Auch Gliedmaßen sind auf ähnliche Weise interessant. Vom Rest des Körpers isoliert, hinterfragen sie ihn und erlauben zugleich eine psychologische Distanz zu der Vorstellung der Person. Hier eröffnet sich für mich ein Weg zur Begierde und zur Projektion.

Shahryar Nashat, Hustle in Hand, 2014, HD video, 10 minutes
Courtesy Rodeo, London; Silberkuppe, Berlin.



LEAVER-YAP: Was meinst du mit „Wunsch“ und „Projektion“? Besonders in diesen beiden Begriffen scheint mitzuschwingen, wie deine Arbeit sich mit Vorstellungen der Queerness überkreuzt. Deine Arbeit verwischt die Grenzen zwischen Fetisch und Werkzeug und bedient sich häufig promisker formaler Beziehungen; damit meine ich Dinge, die dem ähneln oder für es „einstehen“, was sie repräsentieren, aber diese Repräsentation auch komplexer machen: ein Hochformat als Körper, ein Kunstwerk von Paul Thek mit einem verrottenden Stück Fleisch für eine psychische menschliche Wunde oder eine künstliche Prothese als ideales Werkzeug des Körpers im 21. Jahrhundert.

NASHAT: Ich denke, die Kunst hat immer mit den Mechanismen von Wunsch und Projektion gearbeitet. Nicht nur als Ansporn für den Künstler selbst, sondern auch in der Art und Weise, wie seine Arbeit vom Publikum anerkannt und konsumiert wird. Das „Einstehen“ ist eine kraftvolle Strategie, weil es mittels Täuschung funktioniert, was eine weitere kraftvolles Charakteristik ist. Das klingt alles sehr theoretisch, was ich damit aber vermutlich sagen will, ist, dass die Frustration der Bedeutung für jede Arbeit zentral ist, weil sie Begehren erweckt. Die Werkzeuge, die ich in meiner Arbeit nutze – Rahmungen, Bearbeitungen, ein geometrisches Objekt neben der Nahaufnahme einer Wunde – sind Teil dieses Unterfangens.

SCHÖNEICH: Definiert Unvollkommenheit für dich Begierde?

NASHAT: „Vollkommen“ im Gegensatz zu „unvollkommen“ klingt wie „gut“ im Gegensatz zu „schlecht“. Ich glaube nicht, dass es um Moral geht. Wenn ich mir etwa einen Film oder eine Fernsehsendung anschaue, sind die interessanten Figuren nicht unbedingt diejenigen, deren Persönlichkeit mit einem Makel behaftet ist oder die widersprüchlich agieren. Mir ist es egal, ob es gute oder schlechte Menschen sind. Aber es gefällt mir, wenn ihnen eine Perversion eigen ist, eine Art von Widersprüchlichkeit. Inkohärenz schafft eine überzeugende und komplexe Figur. Das ist Begierde.

SCHÖNEICH: Wie wichtig ist für dich in dieser Arbeit die Geste? Ich denke insbesondere an die Teile von Present Sore, in denen an einer Lippe gezogen wird oder ein Ohr berührt oder zugehalten wird.

NASHAT: Einen Körper aufzunehmen, der unbelebt ist oder in einer Aktion eingefroren, hat in den 1990er Jahren Sinn ergeben, als die Fotografie damit beschäftigt war, Tableaux vivants zu schaffen. Für mich hingegen ist der Körper in Aktion interessanter, weil er nicht nur für die Kamera „ausgestellt“ wird, um die beste Aufnahme zu erlangen. Er konkurriert mit der Kamera und zwingt sie, andere Strategien zu finden. Es ist weniger manieriert als etwa eine Pose, und die formale und ästhetische Geste ergibt sich nicht aus dem, was man betrachtet, sondern aus der Art und Weise, wie man es betrachtet. Wenn man den Körper mit Handlungen und Gesten versieht, beschreibt man ein Narrativ für diesen Körper. Man verleiht ihm Handlungsmacht. Ich muss jedoch sagen, dass der Körper auch auf sehr aktive Weise passiv sein kann – wie etwa ein Rauchender oder ein Schlafender, was gleichermaßen machtvolle Bilder sind.

Shahryar Nashat, Present Sore, 2016, Video.



SCHÖNEICH: Wie hast du Present Sore gefilmt? Kannst du etwas zu der Überlagerung der Bilder im gesamten Video sagen?

NASHAT: Die Überlagerung entstand aus einem Zufall, den ich letztlich beibehalten habe. In letzter Zeit habe ich mir häufig Software-Bugs und meine eigenen technischen Fehler zunutze gemacht.

LEAVER-YAP: Deine Arbeit ist so sorgfältig choreografiert und geschnitten, dass es wirklich interessant ist, von der Bedeutung des Zufalls in deiner Arbeit zu hören. Der Zufall scheint mir eine so menschliche Eigenschaft zu sein, während die Aufmerksamkeit für den Zufall etwas sehr Digitales ist – die Eigenschaft, beobachtet oder überwacht zu werden. Mich hat frappiert, was Moyra Davey mir letztes Jahr über das Filmen mit Video berichtet hat. Moyra macht meistens Analogfotografien, und jetzt dreht sie Digitalvideos. Sie sagte mir, dass ihr gefalle, wie Video auf eine für die Form spezifische Weise „den Zufall festhält“. Das Digitale fängt physische Verwundbarkeiten ein, ebenso wie es in der Postproduktion genau diese Eigenschaften vergrößern oder tilgen kann. Ich habe mich gefragt, ob du etwas über die Idee des Fehlers, des Versehens und des Zufalls in deiner Arbeit sagen könntest?

NASHAT: In Hustle in Hand unterbrach mein Schnittprogramm die Videowiedergabe. Ein Bild aus einem völlig anderen Teil des Videos drängte sich in den Clip. Ich nutzte diesen Fehler schließlich, weil dadurch das lineare Narrativ der Zeitleiste aufgebrochen wurde – es ist wie eine Vorschau auf Aufnahmen, die noch kommen werden. Bei Present Sore wiederum brachte ich Material in einer falschen Auflösung in das Projekt, entschied mich dann aber, dies beizubehalten, da es den Blick auf den Körper komplexer machte. Gliedmaßen aufzunehmen ist ein solch gewöhnliches Bild. Man bedarf dieser Tricks, um die Aufmerksamkeit zu steigern. Technische Zufälle machen die Arbeit verwundbarer. Wenn man sie beibehält, kann man sie natürlich als normal erscheinen lassen, aber ich halte es für nützlich, wenn sie als Anomalien bestehen bleiben, die dem Werk zugute kommen.

Shahryar Nashat, Factor Green, Ausstellungsansicht, 54th International Venice Biennial, 2011
Courtesy Rodeo, London; Silberkuppe, Berlin. Foto: Gaëtan Malaparte.



SCHÖNEICH: Bereits in deinen frühen Arbeiten, wie etwa in Factor Green (2011) oder in deiner Ausstellung im Museum Folkwang in Essen, hast du dich mit der Bedeutung und der visuellen Präsenz des Sockels oder des Podests beschäftigt. Im Portikus und in der kommenden Ausstellung Question the Wall Itself im Walker Art Center präsentierst du eine Reihe von Skulpturen – Sockelblöcke –, die auf Stühlen platziert sind, von denen du sagst, dass sie dazu dienen, damit die Sockel sich darauf „ausruhen“ können.

NASHAT: Ja, der Sockel ist für das Kunstwerk, was der Fuß für den Körper ist. Er bietet die Unterstützung, die es dem Kunstwerk erlaubt, zu stehen und zu sehen zu sein. Er ist wie ein Paar Krücken. Present Sore spielt mit der Tatsache, dass hochauflösende Bilder heute im Dienst der „Unterstützung“ des Körpers stehen. Sie machen den Sockel überflüssig. „Chômage technique“ ist ein Ausdruck aus dem Französischen, der verwendet wird, wenn etwa Arbeiter in einer Fabrik auf Kurzarbeit gesetzt, ihre Löhne aber weiter gezahlt werden. In einer Welt von Körpern, die in Pixeln gezeigt werden, sind Sockel in einer Art „chômage technique“ – sie haben niemanden mehr zu stützen. In meiner Installation können sie sich zur Ruhe setzen und den Anblick der Körper genießen, die sie einst gestützt haben. Der Sockel war immer ein Benachteiligter, stand im Dienste von etwas anderem. In dieser Konfiguration aber ist es, als ob er im Lotto gewonnen hätte und sich in Florida zur Ruhe setzen würde.

Übersetzung: Robert Schlicht