Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.
Jochen Lempert, Johannisbeeren, 2019, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona
Niemand ist gedankenloser als ein Lemming, hinterlistiger als eine Katze, sabbernder als ein Hund im August, stinkender als ein Ferkel, hysterischer als ein Pferd, idiotischer als eine Motte, schleimiger als eine Schnecke, giftiger als eine Viper, weniger phantasievoll als eine Ameise und weniger musikalisch als eine Nachtigall. Einfach ausgedrückt: Wir müssen diese und andere Tiere für das, was sie sind, lieben – oder, wenn das ganz und gar unmöglich ist, zumindest respektieren. 1
— Umberto Eco
Jochen Lemperts Fotografien beginnen mit einer Begegnung, dem Zusammentreffen realer oder künstlicher Darstellungen von Pflanzen und Tieren in städtischen oder ländlichen Umgebungen, Museumsausstellungen, wissenschaftlichen Büchern oder auf der Kleidung eines Passanten. Flora und Fauna in seinen Bildern scheinen zu interagieren, neigen sich zur Kamera oder verhalten sich völlig gleichgültig gegenüber seiner Anwesenheit. Diese Bilder haben Lempert Anerkennung als Künstler eingebracht, der sich für die Art und Weise interessiert, wie die Natur für uns gegenwärtig wird. Diese scheinbar unauffälligen Begegnungen des Alltags werden, sobald sie fotografiert sind, zu großartigen Trägern von Enthüllungen, die von der Darstellung der schelmischen Natur der Tiere bis hin zu den majestätischen Schatten reichen, die das von der Sonne geküsste Blätterwerk wirft. Lemperts Bilder haben eine Leichtigkeit, eine Nähe, die davon zeugt, dass er sich mit den kleinsten Insekten oder zerzausten Vögeln wohlfühlt, die uns Zugang zu ihrer Existenz gewähren. In seinem Werk werden Ähnlichkeiten zwischen Organismen, himmlischen oder irdischen Phänomenen mit emotionaler Intelligenz betrachtet und zum Ausgangspunkt für Bilder, welche die Verbundenheit der Natur offenbaren. Sein Interesse an wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Biologie und dem Verhalten von Tieren, schlägt sich in Bildern mit metaphorischem, assoziativem und politischem Scharfsinn nieder und ermöglicht, fast intim auf andere Arten zu blicken, mit denen wir das Leben auf diesem Planeten teilen.
Jochen Lempert, Installationansicht, Portikus, 2022, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: der Künstler, BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona; Fotografie: Diana Pfammatter
Seit drei Jahrzehnten verfolgt Lempert mit bemerkenswerter Konsequenz und Einfallsreichtum den Grundgedanken, Bilder nur nach einem Prinzip der Notwendigkeit zu machen. Obwohl er dafür bekannt ist, stets eine Kamera in der Jackentasche zu tragen, findet der Akt des Bildermachens bei ihm erst lange nach dem ersten Klick des Auslösers statt. Der Großteil seiner Arbeiten entsteht nicht auf Kontaktbögen. Er wählt direkt von den Negativen aus, wobei er oft nur ein Drittel oder weniger der Bilder einer Rolle verwendet. Mit Hilfe von Arbeitsabzügen, die er im Format A5 oder kleiner anfertigt, mischt er verschiedene Varianten und studiert sie, bevor er sich auf eine bestimmte Größe, einen bestimmten Ausschnitt oder ein bestimmtes Licht festlegt. Eine Folge dieses akribischen Bearbeitungsprozesses ist, dass das Sehen selbst zum Gegenstand der Arbeit und zur Methode des Zeigens wird. Jedes von Lemperts Werken ist die Summe allmählicher Entscheidungen, die zur Entstehung eines Bildes führen. Seine Fotografien, in erster Linie Silbergelatineabzüge, werden von ihm in seinem Atelier in analogen Farbschemata von Grautönen auf mattem, strahlend weißem Barytpapier selbst entwickelt und bleiben ungerahmt, wenn sie an die Wand geklebt oder in Vitrinen ausgestellt werden. Ob für eine Ausstellung oder eine Publikation, Lempert zieht es vor, ältere und neuere Werke nahtlos zu kombinieren
und so ein Werk zu schaffen, das eng miteinander verknüpft ist, bewusst anachronistisch, und in welchem Entscheidungen über Paarungen und Gruppierungen durch einen relationalen Antrieb eingefügt und neu formuliert werden. Diese assoziative Herangehensweise an das Kunstwerk findet sich auch in den Titeln seiner Werke wieder, wobei er einzelne Substantive oder beschreibende Sätze bevorzugt, die der Betrachterin unnötige Ablenkungen ersparen sollen, um die Erfahrung vor dem Bild auf das zu beschränken, was der Künstler als etwas bezeichnet, „das man im Moment des Sehens stark spürt“ 2
Jochen Lempert, Schmetterlingshafte, 2019, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin und ProjecteSD, Barcelona
Auf dem Spielfeld der zeitgenössischen Kunst ist Lempert ein begnadeter Außenseiter. Seit Anfang der 1990er Jahre stellte er seine Arbeiten in Köln und Hamburg aus, und abgesehen von gelegentlichen thematischen Gruppenausstellungen zirkulieren sie vor allem in den Sphären der Fotografie, wenn auch mit Argwohn hinsichtlich seines unkonventionellen Umgangs mit dem Medium. Sein gleichzeitiges Einbeziehen verschiedener fotografischer Verfahren, von der Augenblicklichkeit bis zur Inszenierung, die er durch die wiederkehrende Verwendung von Multiples in sequenzieller Reihenfolge miteinander in Einklang bringt, positioniert das Werk unabhängig von üblichen Kategorisierungen. Ein weiteres Kuriosum im Zusammenhang mit der öffentlichen Rezeption von Lemperts Praxis, und besonders in seiner Verwendung einer 35-mm-Kamera, ist die wiederholte Bezugnahme auf die wissenschaftlichen Qualifikationen des Künstlers. Sein Name wird in der Regel von Titeln begleitet, die ihm eine zusätzliche Ebene der Außergewöhnlichkeit verleihen: Biologe, Odonatologe, Entomologe oder Ornithologe. Es ist zwar kein Geheimnis, dass er von Zeit zu Zeit wissenschaftliche Berichte verfasst hat, doch wie weit diese Studien von seiner Arbeit entfernt sind, wird durch ihr völliges Fehlen in seinen Ausstellungen und Monografien bestätigt. Dass derartige Klassifizierungen für den Künstler von Belang sein könnten, ist eher unwahrscheinlich. Lempert interessiert sich wenig für nachweisbare Fakten und auch sein Arbeitsprozess wird nicht von festen Strukturen oder Theorien bestimmt, sondern ist ein offenes System, in dem, wie er bemerkte, „[d]ie Suche […] ein großer Teil des ganzen Projekts [ist]“ und in dem unbegrenzte Ergebnisse in jedem Schritt des Weges plausibel sind.3 In seiner fotografischen Arbeit schweigt Lempert aktiv zu den Naturwissenschaften. Anstatt seine wissenschaftlichen Kenntnisse auf das anzuwenden, was er fotografiert, lädt er visuell zur Bedeutungsfindung durch den Akt des Sehens ein – den Akt des Sehens von dem, was abgebildet ist und darauf wartet, sichtbar zu werden.
Ein weiterer auffälliger Aspekt innerhalb von Lemperts Praxis ist sein Atelier oder vielmehr dessen Wände, die eine große Anzahl kleinerer Hohlräume aufweisen, die von den Reißnägeln herrühren, die er zum Anheften von Arbeitsabzügen verwendet. Die in verschiedene Richtungen verlaufenden Spuren zeigen seine jahrzehntelange Suche nach einem Bild. Die Platzierung der Abzüge an der Wand wechselt zwischen Einzelfotografien, symmetrischen Gruppierungen, bei denen gleichgroße Abzüge zu Duetten, Quartetten oder zweigliedrigen Rastern mit nur wenigen Zentimetern Abstand gepaart werden, und asymmetrischen Paarungen, bei denen Abzüge unterschiedlichen Maßstabs im Dialog, jedoch im Abstand einer Armlänge zueinander platziert werden. Die verschiedenen Kombinationen und Konfigurationen, die im Atelier entstehen, beeinflussen die Improvisationen, die auf den Wänden der Ausstellungsräume umgesetzt werden. Aber dies ist nur ein Aspekt seiner Suche. Ein weiterer wichtiger Teil des Prozesses findet in der Dunkelkammer statt, bevor ein Abzug an die Wand kommt. Der Künstler hat es so erklärt: „Es geht eigentlich immer darum, anhand des Fotos etwas zu sehen oder auf dem Foto etwas zu sehen. Manchmal braucht man dazu mehrere Bilder, damit etwas zusammenkommt. Und manchmal reicht nur eins.“ 4
Jochen Lempert, Installationansicht, Portikus, 2022, © Jochen Lempert/VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Courtesy: BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona; Fotografie: Diana Pfammatter
Wenn die Wand die Bühne ist, auf der Lempert probt, dann sind die kleinen Pappschachteln mit den Arbeitsabzügen, die in den Regalen stehen, das Casting. Hunderte von Abzügen in der Größe von Karteikarten sind in Sammlungen gruppiert, geordnet nach einzelnen Wörtern in deutscher Sprache, die eilig auf Notizzettel geschrieben wurden und zum Beispiel lauten: H2O, Pferde, nur Bienen, Tauben, Pflanzen, Himmel, Wind. Andere gehören eher zu metaphorischen Kategorien, die auf bestimmte Konstrukte anspielen, wie: Bildlogik, Symmetrie, Sinne und Gestalt. Lemperts Sammlung von Arbeitsabzügen funktioniert anders als ein Aufbewahrungsort; sie hat sich zu einem Lexikon entwickelt, das er verwendet, modifiziert und von dem er entlehnt, um das zu schaffen, was er „Konstellationen“ nennt, in denen die Art der Präsentation an einer Wand oder in einem ganzen Raum einen Dialog etabliert. Wenn die Arbeitsabzüge ihm Antworten auf die Frage geben, welches Bild behalten werden soll, erweitern die daraus resultierenden Gruppierungen die Bedeutungskonstruktion durch Gegenüberstellungen und Vergleiche. Lempert geht durch hypothetische Platzierungen intuitiv vor und unterscheidet die Bilder nach keinem vorgefassten Plan. Daher sind alle Szenarien provisorisch, außerhalb der Chronologie stehend und der schnellen Überraschung einer Erscheinung unterworfen. Auch wenn es Paare gibt, die sich durch seine Improvisationen ergeben, ist jede seiner Installationen ortsspezifisch, d. h. vor Ort inszeniert und darauf ausgerichtet, Verständnis gerade für ihre flüchtige und austauschbare Bedeutung zu erzeugen, die permanent gegenwärtig ist.
Im Zentrum von Lemperts Arbeit steht eine radikale Ökologie, die durch eine Praxis des Verstandes, der Hände und der Augen gekennzeichnet ist. Durch die Verwendung von Bildern, bei denen die Welt kein Ort ist, den es zu erfassen gilt, sondern ein Terrain der Korrespondenz, macht er Begegnungen mit der Natur und nicht-menschlichen Wesen sichtbar, bei denen eine Übertragung und Koexistenz stattfinden. Lemperts Annäherung an die Natur aus furchtloser Nähe ist herzlich und respektvoll, doch vor allem einfühlsam. Seine Bilder lehren uns nicht, was wir betrachten sollen, sondern wie wir die Arten, mit denen wir auf diesem Planeten zusammenleben, sehen können. Seine Interaktion mit der Umgebung spiegelt sich auch in seiner Suche nach Beziehungen in den Bildern wider. Für Lempert ersetzt die Fotografie die Erfahrung der Natur nicht unbedingt als Natur in Abwesenheit, sondern visualisiert sie als Präsenz. Unsere Wahrnehmung konvergiert mit Lemperts intimer Nähe zu seinen Motiven, wenn wir uns ihm in der Bejahung der Würde aller Lebewesen anschließen. Seine sich überschneidenden Interessen in Kunst und Wissenschaft konvergieren in seinem Werk als Darstellungen, die von der Welt, die wir bewohnen, nicht getrennt sind, sondern eher zu ihr gehören, so dass die Fotografie als Blätterwerk der menschlichen Erfahrung erscheint.
Aus dem Englischen übersetzt von Holger J. Jakob
Im Rahmen der Ausstellung Pierre Verger in Suriname lädt Willem de Rooij die Künstler*innen Razia Barsatie, Ansuya Blom, Ruben Cabenda und Xavier Robles de Medina ein, ihre Werke auf der Portikus-Website zu zeigen. Das Programm Flux und Reflux – A Selection of Moving Images stellt vier zeitgenössische Künstler*innen vor, die einen Bezug zu Surinam haben. Die Videoarbeiten werden jeweils für zwei Wochen online verfügbar sein:
24.06.–07.07.2021
Ansuya Blom, SPELL, 2012, 6'38
SPELL ist ein Kurzfilm, der die Gedanken eines Mannes in einem Zustand der Unwirklichkeit dokumentiert. Klänge dringen in seine Gedanken ein, werden verstärkt und vermischen sich mit Assoziationen aus seiner Vergangenheit. In dieser Zwischenwelt versucht er, wieder Halt zu finden, sinniert über frühe Anfänge und verspottet gleichzeitig seinen eigenen Zustand, die Sinnlosigkeit des Handelns und die Rituale des täglichen Daseins.
Ansuya Blom (*1956 in Groningen) lebt in Amsterdam. Sie studierte an der Königlichen Kunstakademie in Den Haag und den Ateliers '63 in Haarlem. Blom arbeitet seit den späten 70er Jahren in verschiedenen Kunstformen, darunter Zeichnung, Malerei, Fotografie, Film, Text, Collage und Skulptur. Im Jahr 1981 erhielt sie den niederländischen Königlichen Preis für moderne Malerei. Ihre Filme wurden auf dem Internationalen Filmfestival Rotterdam, den Rencontres Internationales Paris-Berlin, dem IDFA Amsterdam und im Museum of Modern Art, New York, gezeigt. Ihre Arbeiten befinden sich in den Sammlungen von Museen, darunter das EYE Filmmuseum, Tate Modern, Stedelijk Museum und das Museum Boijmans Van Beuningen. Zu ihren Einzelausstellungen gehören das Camden Arts Centre in London, die Douglas Hyde Gallery in Dublin, das Stedelijk Museum in Amsterdam und das Casco Art Institute in Utrecht. Im Jahr 2020 wurde sie mit dem Dr. A.H. Heineken Preis für Kunst ausgezeichnet.
Blom hat außerdem einen Master-Abschluss in Psychoanalyse von der Middlesex University in London und ist assoziiertes Mitglied des Centre for Freudian Analysis and Research in London. Sie ist Beraterin an der Rijksakademie in Amsterdam und war 2019 als Gastberaterin an Kunstinstitutionen in Großbritannien, Südkorea, Surinam und Indonesien. Sie hat öffentliche Vorträge und Interviews gehalten, zuletzt an der Nola Hatterman Art Academy in Surinam, dem EYE Film Museum, dem Casco Art Institute und De Appel.
Bevorstehende Künstler*innen in der Programmreihe:
01.07.–15.07.2021
Razia Barsatie
Im Rahmen der Ausstellung Pierre Verger in Suriname lädt Willem de Rooij die Künstler*innen Razia Barsatie, Ansuya Blom, Ruben Cabenda und Xavier Robles de Medina ein, ihre Werke auf der Portikus-Website zu zeigen. Das Programm Flux und Reflux – A Selection of Moving Images stellt vier zeitgenössische Künstler*innen vor, die einen Bezug zu Surinam haben. Die Videoarbeiten werden jeweils für zwei Wochen online verfügbar sein:
10.06.2021–24.06.2021
Xavier Robles de Medina
Ai Sranang, 2017
Musik: Lieve Hugo, „Oeng Booi" und „Blaka Rosoe"
Laut dem Transnational Decolonial Institute befürwortet Dekolonialität Interkulturalität, „die Feier des Zusammenseins von Grenzbewohnern in und jenseits der Grenze“.
Ambivalenz ist das wahre Gefühl der „Diaspora" - so sehr wir es auch hassen, es zuzugeben, wir lieben das Gefühl, anerkannt zu werden, nicht als Berühmtheiten, sondern als Teil einer „Abstammung", als erweiterte Familie. Jill Casid schreibt, dass „während Diaspora seit dem neunzehnten Jahrhundert verwendet wird, um sich speziell auf die Zerstreuung eines Volkes zu beziehen, das man sich als Stamm oder Familieneinheit vorstellt, bedeutet Diaspora auch die Verstreuung von Samen".
Auch Stuart Hall hat den Begriff hinterfragt und festgestellt, dass seine Bedeutung in kolonial konstruierten Binaritäten verwurzelt ist, von „Original" und „Kopie" und von „innen" und „außen". Es ist bezeichnend, dass unsere nationale Blume, die Fajalobi, erst kürzlich aus Indien eingepflanzt wurde.
(Auszüge aus Xavier Robles de Medinas Essay „Preface")
Ai Sranang ist ein kurzer Montagefilm, der die surinamesische Geschichte und Politik seit der Unabhängigkeit von den Niederlanden im Jahr 1975 untersucht. Durch seine Fragmentierung spielt die Montage auf die Komplexität der Diaspora an, wie sie im Verhältnis zur Identität steht. Die Tropen des Dazwischen-Seins und des Reisens sind eine Erweiterung dieser Metapher, erinnern jedoch zugleich an Vorstellungen von Führung und Regierung. Das Bild eines „Swinger"-Busses, der von einem rücksichtslosen Fahrer völlig aus dem Ruder gefahren wird, erweitert seinen metaphorischen Raum über den surinamesischen Kontext hinaus auf die Ereignisse, die eine globale neoliberale Ära bestimmt haben. Xavier Robles de Medina hat eine umfangreiche Sammlung von vorgefundenen Bildern aufgebaut, die für seine künstlerische Praxis von zentraler Bedeutung ist, da er sich diese aneignet, sie bearbeitet, neu kontextualisiert und transformiert
Xavier Robles de Medina (*1990 in Paramaribo) ist ein in Berlin lebender bildender Künstler. Er machte seinen Abschluss an der Goldsmiths, University of London. 2015 wurde er für den Prix de Rome Visual Arts in den Niederlanden nominiert und stand auf der Shortlist für den Dutch Royal Award for Modern Painting. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen zählen SCAD Museum of Art, Savannah; Another Mobile Gallery, Bukarest; Praz-Delavallade, Los Angeles und Paris; Readytex Art Gallery. Paramaribo und Catinca Tabacaru Gallery, New York. Xavier Robles de Medina wurde ausgewählt, um an der 14. Dakar Biennale in Senegal im Jahr 2022 teilzunehmen.
17.06.–01.07.2021
Ruben Cabenda
24.06.–08.07.2021
Ansuya Blom
01.07.–15.07.2021
Razia Barsatie
Für Cashmere Radio sprach Hajra Waheed mit Reece Cox über ihre Arbeit HUM, die vom 11.07. bis zum 06.09.2020 im Portikus zu sehen und hören war.
Die Folge von INFO Unltd ermöglicht, tief in Hajra Waheeds Klangarbeit HUM einzutauchen. HUM erforscht die Geschichte des akustischen Widerstands in Süd- und Westasien und Nordafrika während des letzten halben Jahrhunderts und zeigt Momente, in denen Klang und Stimme unterdrückte Völker und Bewegungen über Geografien und Generationen hinweg vereint haben.
Link zu Hajra Waheed über HUM und abolitionistische Methoden des Zuhörens
Anlässlich Arin Rungjangs Ausstellung Bengawan Solo im Portikus spricht Paula Kommoss im Interview mit dem Künstler über die Entstehung des Werkes und die Bedeutung des Flusses Bengawan Solo.
PK: What really interests me, first of all, is how did you come to find the singer for your work Bengawan Solo?
AR: A while ago, I was in Yogyakarta [in Indonesia] and had started to do research on Diponegoro, the priest to the Sultan of Yogya who is depicted in a painting by Raden Saleh. Raden Saleh was an Indonesian painter who fled from the country because of political aggression between the Dutch administration and indigenous Indonesian monarchy during the mid-19thcentury. Saleh went on to study Western painting, and his style was inspired by Delacroix, for example, which you can see in his compositions, use of lighting and so on.
Of course, all of this has been studied, and here I was wandering around in all this history about Yogyakarta and Indonesia in general, and I was also looking at the Chinese communist movement in Indonesia and so on. So, I had done all this research, and then I kept thinking about my relationship to Indonesia in general, which is always my starting point to making work. But I couldn’t find a very real connection to this material, except with the song ‘Bengawan Solo’, which I began to see would be my point of departure.
The first time I heard ‘Bengawan Solo’, I thought it was a Chinese song because I didn’t realise it hadn’t been written by the Chinese woman who sang it in 1960s. In a sense I had taken the Indonesian away in my mind. The song was really important personally because it was connected to a time in which I was questioning my sexuality, I was gay, I was not that gay, I didn't know what I was. I fell in love with a guy because of this song – it was a very romantic period for me.
I had the song in my mind for a very, very long time – stored in some part of my brain and my memory and then, even before I came to Indonesia, I discovered that the song was not by the Chinese woman after all, but that it was an Indonesian guy who wrote it in the 1940s, when he was only 19 years old. He had quit school and was working in a Kroncong band, the traditional Indonesian band that you can see in the video. And so, he created ‘Bengawan Solo’, which became incredibly popular. When Indonesia came under Japanese occupation [during the second World War], two years later, the song spread throughout Japan. There was a Dutch woman who was born in Indonesia but grew up in a Japanese internment camp, and she knew the song because it was played by the Japanese. It became stuck in her memory too, and so she sung a version of it as a teenager in the 1960s, which became really popular in Singapore and in other parts of Asia. So that was the song, and all these stories that are part of it became part of my knowledge, too.
I then got to know Rochelle – who sings this version of ‘Bengawan Solo’ – through a mutual friend. At that time, I was looking for someone who could imbue the song with more meaning beyond my own personal memories, and to share the song and its resonance with that person. So, my friend introduced me to Rochelle, a singer in a Kroncong band. Before we met, I didn’t know that Rochelle was the daughter of Lendra, a very important poet, or that her mother was a Princess, one of the daughters of the Sultan of Yogya. I was just looking for a singer who could deliver this song and share in its meanings. We met and got to know each other, and I learnt about her personal memories and history and so on, and it was so great – that there was this connection that I didn’t expect to find. I mean, I guess because things are always in circulation, things are always just there, even if it’s happening through different times. And so, the work is also about these layers of histories and memories and what we couldn’t foresee.
Actually, I didn’t need to put all that information onto the table in the show, it was just a way to display my research. For me, it’s enough to look at Rochelle singing that song and think of all these things that were happening before, before the song became so evocative for me. Like the Chinese using the river as a way to transport dead bodies during the Communist regime, and also Mushagra, Diponegoro, Raden Saleh’s painting, and all of these narratives that were in circulation through history, through art, and through memories – that’s what I think is so rich and thought-provoking.
PK: And the great thing is that all of these stories are brought together through the song ‘Bengawan Solo’, which tells the story of the legendary Solo River in Java, the island’s longest, in a really poetic way. The river is both the song’s main narrative, flowing from mountains to the sea, but also its title. So, on the one hand the lyrics lay out this seemingly simple story, but on the other, there are all these layers of narratives that you have just described: that the song comes historical connotations of the Japanese occupation, and something you mentioned earlier, that during the Communist regime, the bodies of those murdered by the state were washed by the same river. These stories are often violent but the song is beautiful, and whether you speak the language, or you don’t, a song is always a way to reach out to people.
AR: Yes, and so much spirit…
PK: …and to trigger emotion in a way.
AR: Yes, and once the work was done and shown, it was not just about me and Rochelle anymore. Like my story might be a silly one to share with the song but Rochelle’s is really rich, and also, I like to think about those people who might say “I remember this song”, and can share their own memories as well. I like what you just said about even someone who had never heard the song before, being able to access it through the narrative. So, it means that it is not just the song that evokes emotion and opens people’s hearts and feelings...
PK: Yes, and also because the song plays in a loop throughout the work, you sit there and you start reading the story as it unfolds, but the music keeps repeating over and over. As a viewer, you add all these layers on top of the music; it’s a nice way to make the song richer for everybody. And actually, I heard the song for the first time in the film In The Mood of Love (2000) but of course I didn't know anything about it then.
AR: I have used two versions of the song in my work – the version from In the Mood for Loveand the version that speaks to my experience as a gay man, which is the original recording of ‘Bengawan Solo’. Actually, [in that film] they made it into a love song. I think the film is very poignant, every time I watch it, it always gives me tears because it’s such a symbol really, about the people who lived there peacefully, and then it becomes kind of actively related with other knowledge – a cruelty of the world and colonization and so on. The land has been there for thousands and thousands of years, and on it people live and die, live and die, live and die, and they leave traces of their memories in the land and for me it’s beautiful.
PK: Yes, I think so too, and you are opening up with this really personal story, which in a way makes you vulnerable. And this is a starting point that I appreciate a lot, explaining how you discovered that you’re gay and so on, and how you become conscious of this through the romance that this song embodies for you, which adds such an emotional layer to it.
AR: And that works because I made the work specifically for Indonesia, and because if you’re gay in a Muslim country, it is very difficult, and I had a very difficult life. To share the work as an Indonesian gay Muslim was to give those feelings space, and I wanted to show the audience that they could maybe share in this level of intimacy between myself as an artist and them as the audience, through the song.
PK: You’re making it possible to expand this song, which is from Indonesia and everybody there will have their own personal connotations of it. But through opening it up and to align it with love as well is expanding the context of the song once more.
AR: It’s not only about being gay as well, I mean love as it is for all human beings…
PK: And acceptance, in a way.
AR: Like when Rochelle talks about Gusta – “Gusta is the almighty”, and Gusta doesn’t have gender – Gusta could be anything.
PK: Especially when Rochelle talks about her father, and how when he got older his ego wasn’t in the way anymore. I found that really interesting, because one could argue that when people are strongly against something, or stuck in their ways, it’s mostly because their pride is in their way. Whereas in your work ‘Bengawan Solo’, there are two narratives woven into each other and also visually, you’re surrounded by a kind of orchestra – as a viewer you feel as if you are almost facing a community.
AR: Yeah, it’s not a movie – I mean, it works in the way that we are using this type of virtual immersion to convince people, so it’s like the narrative is going on inside someone’s head.
PK: Yes, and I’m happy we get to see it here in Frankfurt. Songs are good tools to get people’s attention.
AR: It’s really that simple, yes? Because I have been working with moving image for many years and it was always different from recreating an event as a film, because it’s about how to transform it – because I always think that nothing can replace reality, and once the moment has passed and you want to go back to it, it will already have layers that weren’t there before. But I have been thinking about how to make such a recreation into something more transparent, and so for me music is about representing reality in a different way. In one sense, music is just music, but as with this song – it was created in 1940s and already had all these historical resonances, and so all these years later it is not just about the original song itself but all the layers of the spheres that the song has passed through. I think that’s enough – Bengawan Solo has its own content and to allow this content to appear in the current contemporary moment, I think this is really important.
PK: What I also like, is when you first sit down in front of the work, in a way you just read the texts. Yes, you encounter these different musicians and the singer, but for me it was kind of like going on a story ride, you know? Because as you describe the river and what happened, it’s like this storytelling moment that transforms the viewer into a child that listens and soaks everything up and from there you go on throughout the work. And somehow the story isn’t closed, which is really nice.
AR: Yeah. That’s great. I’m planning to do a new work in Berlin next year and I hope to add some other pieces.
PK: That sounds really interesting.
AR: And you know, I wasn’t quite sure about my way of making work. I mean, as a person growing up in Thailand, in that region the majority of our knowledge is not that strong, so to speak, it’s not that constructed like in Western countries. I liked conceptual work when I was young, I found it really thoughtful, but I mean we weren’t really into nature. And also, in our culture we never separate body and soul, body and spirit. A person is never separate from God. It was almost like Joseph Beuys but it was not this constructed idea. It was just in the nature of the people who lived there. It’s both a bad thing and a good thing. The bad thing was people prayed to the tree for good luck and so many outside people said that this is so Barbarian or something, but still others have attached themselves to nature, and for them they will never separate themselves from the earth, from the trees, from the river. Deep down they believe that one day they will go back to the river, to the earth, to the trees again and I have never disregarded this. I think this is how we communicate with things and a vantage point I could appreciate. I mean, not just to treat reality as a source material to reproduce in art.
PK: That adds another dimension to the river in your work, because the river is symbolic of an eternity, but I think besides it being, you know, old-fashioned to prey to a tree, it still shows a kind of respect for nature and its power when you’re surrounded by it.
AR: There’s also one poem by an Indonesian poet, which is about a person that wants to walk across the river and he is hesitating because he sees his relative’s spirit fill up that water and he cannot step into the river because of his ancestor.
PK: There is so much additional information for your work.
AR: Because the process is so complex, all the information, research, and so on. My work that was at documenta 14 246247596248914102516 … And then there were none(2017) too – that one was super rich too, so much information – this, this, this – we have tons of information…
Seit jeher gilt es als eine der wichtigsten Aufgaben der Menschen Wissen zu sichern. Dies geschieht nicht nur mithilfe mündlicher Überlieferungen an nachfolgende Generationen, sondern allem voran durch Gedächtnisinstitutionen. Unter diesem Sammelbegriff vereinigen sich all jene Einrichtungen, deren Ziel es ist, Wissen zu bewahren und zu vermitteln. Denkt man hierbei zunächst an Bibliotheken und Archive, so zählt das Museum ebenfalls dazu. Es handelt sich hierbei um Orte, die Zeitzeugnisse verwalten und gerade das zu schützen versuchen, wodurch sich die Identität einer Gesellschaft konstituiert: ihr kulturelles Erbe.
Sirah Foighel Brutman & Eitan Efrat, Printed Matter, Ausstellungansicht, Slide show, 29.04.–11.06.2017, Portikus. Foto: Helena Schlichting.
Sirah Foighel Brutman & Eitan Efrat, Printed Matter (Still), 2011.
Sirah Foighel Brutman & Eitan Efrat, Printed Matter (Ausschnitt), 2011.
Die 1960er Jahre waren für die bildende Kunst in vielfältiger Weise revolutionär und wegweisend. Es verwundert daher nicht, dass die Verwendung vieler bis dato ungewöhnlicher Werkstoffe im Arbeitsprozess von Künstlern gerade in diesem Jahrzehnt ihren Ursprung oder einen enormen Aufschwung fand. Künstlerische Grenzen verschwanden bzw. wurden neu ausgelotet und Materialien wie Textilien entwickelten sich alsbald zu „autonomen künstlerischen Werkstoffen“. 1
Einer der bekanntesten Wegbereiter für diese Entwicklung ist sicherlich der deutsche Künstler Joseph Beuys, der nicht zuletzt mit einem Fokus auf die Materialien Filz und Fett internationales Renommee erwarb. Auch Beuys amerikanischer Kollege Robert Morris ist bekannt für seine Arbeiten mit Filz, obgleich sich die Intentionen der beiden Künstler hinter der Arbeit mit dem Material stark unterschieden.
Dass Textilien in der Kunst zuvor ziemlich lange eine eher marginale Rolle spielten, lässt sich aber auch aus technologischer Sicht erklären. Letzten Endes benötigte es erst einen bestimmten Maschinentypus, um großformatige Ornamente und komplizierte Textilentwürfe weben zu können. Zwar hatte Joseph-Marie Jacquard (1752 – 1834) seinen berühmten Webstuhl bereits 1801 erstmalig vorgeführt, dennoch war diese Technik lange Zeit nicht jedermann frei zugänglich oder horrend teuer und so war es auch für Künstler schwierig, bestimmte Stoffe überhaupt zu produzieren.
Jacquard-Webstühle zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es die ersten ihrer Art waren, die auf Basis von Lochkarten webten und somit auch komplizierte Muster ermöglichen. Pro Schuss lässt sich so jeder Kettenfaden am Webstuhl einzeln oder in einer kleinen Gruppe bedienen, was bei früheren mechanischen Modellen unmöglich war. Dass diese Methodik auch heute noch eine Relevanz im künstlerischen Herstellungsprozess besitzt, zeigte die Arbeit „Acquired Nationalities“ von Rosella Biscotti in der Ausstellung „House of Commons“ im Portikus.
Jacquard Webstuhl, gefilmt im Paisley Museum (© National Museums Scotland)
Rossella Biscotti, Aquired Nationalities, 2014, KADIST Sammlung, Ausstellungsansicht, House of Commons, 03.12.2016–29.01.2017, Portikus, Frankfurt/Main, Foto: Helena Schlichting
Willem de Rooij, Taping Precognitive Tribes, 2012 , Courtesy: Friedrich Christian Flick, Foto: Axel Schnider, Quelle: Mousse Magazine)
Thomas Bayrle, All-in-One, Ausstellungsansicht, WIELS Contemporary Art Centre, 09.02 – 12.05.2013, Brüssel, 2013. Quelle: WIELS
Acht Vierkant-Aluminiumstäbe unterschiedlicher Längen lehnen in regelmäßigen Abständen an der weißen Wand des Portikus. Die glatt polierte Oberfläche reflektiert das Licht und die Umgebung und hüllt sie in ein silbrig-weißes Schimmern. Auf jeweils einer Längsseite der Stäbe ist in schwarzen, serifenlosen Großbuchstaben aus Kunststoff ein Vers des Gedichtes There is a Solitude of Space, Nr. 1695, von Emily Dickinson zu lesen:
THERE IS A SOLITUDE OF SPACE
A SOLITUDE OF SEA
A SOLITUDE OF DEATH, BUT THESE
SOCIETY SHALL BE
COMPARED WITH THAT PROFOUNDER SITE
THAT POLAR PRIVACY
A SOUL ADMITTED TO ITSELF–
FINITE INFINITY 1
Roni Horn, When Dickinson Shut Her Eyes: No. 1695 (There is a Solitude of Space), 1993, Ausstellungsansicht, House of Commons, 03.12.2016–29.01.2017, Portikus, Frankfurt/Main, Foto: Helena Schlichting.
Roni Horn, When Dickinson Shut Her Eyes: No. 1695 (There is a Solitude of Space), 1993, Ausstellungsansicht, House of Commons, 03.12.2016–29.01.2017, Portikus, Frankfurt/Main, Foto: Helena Schlichting.
Haut bedeckt die Oberfläche des menschlichen Körpers. Sie staucht oder dehnt sich mit seinen Bewegungen und trägt die Spuren seiner Handlungen und Blessuren. Gegenstände, die sich an die Haut schmiegen, vom Körper benutzt oder getragen werden, beeinflussen seine Haltung wie auch seine Bewegungsabläufe und passen sich an sie an (oder werden daran angepasst). Kleidung, Schuhe, Möbel und Prothesen ergänzen den Körper um Form und Funktion. Sie verleihen ihm Fähigkeiten, die er von sich aus nur begrenzt besitzt und ermöglichen ihm so zum Beispiel in der Kälte nicht zu frieren, vom Boden erhoben zu sitzen oder mit nur einem Bein zu gehen. Auch wenn sie gerade nicht in Benutzung sind, werden an den jeweiligen Gegenständen die Spuren ihres Gebrauchs und damit die Abbilder ihrer Träger sichtbar.
Der Sockel ist ein Körper im Raum. Trägt er im künstlerischen Ausstellungskontext einen Gegenstand, so ist dies eine Setzung, die Dritte (Künstler/Kuratoren) initiiert haben. Diese Setzung besteht für die Dauer ihrer Präsentation. Sie provoziert den Kontakt zweier Körper, dem Tragenden und dem Getragenen. Der Sockel erweitert das zu tragende Objekt um mehrere Funktionen: Er trennt den Gegenstand von seinem Umraum und erhebt ihn; der Boden, auf dem der Betrachter steht, ist so nicht mehr der Boden, auf dem das Objekt steht, sondern provoziert eine Distanz, welche die Wahrnehmung seiner Oberfläche in den Vordergrund rückt. Diese Distanzierung erhebt das Objekt faktisch, aber auch ideell. Dinge, die auf ihre Betrachtung reduziert sind, werden (meist) unantastbar und gehören nicht mehr zur Welt der Gebrauchsgegenstände.
Edgar Degas, Petite danseuse de quatorze ans, 1878/1881, by M.T. Abraham Center - Provided by copyright owner of both photograph and artwork, CC BY 3.0, Wikimedia Commons
Michelangelo Pistoletto, Vetrina-Specchio, 1966
John McCracken, Minnesota, 1989
Shahryar Nashat, Chômage Technique (A,B,C,D,F,G,H), 2016
Spotting the Shottspotter: Foto eines Shotspotter Mikrofons, installiert an einer Strassenlaterne. Courtesy der Künstler.
Future, March Madness [prod by Tarantino], von dem mixtape 56 Nights 2015.
Im Rahmen der Ausstellung Pierre Verger in Suriname lädt Willem de Rooij die Künstler*innen Razia Barsatie, Ansuya Blom, Ruben Cabenda und Xavier Robles de Medina ein, ihre Werke auf der Portikus-Website zu zeigen. Das Programm Flux und Reflux – A Selection of Moving Images stellt vier zeitgenössische Künstler*innen vor, die einen Bezug zu Surinam haben. Die Videoarbeiten werden jeweils für zwei Wochen online verfügbar sein:
01.07.–14.07.2021
Razia Barsatie
A no san fesi e sori, ati e tyari, 2021
(wat niet op het gezicht te zien is, draagt 't hart m.a.w. het uiterlijk is anders than het innerlijk)
Video-Installation
8,3 m x 5,1 m
Holzkohle, Gips, Mehlteig, Kampfer, Tapioka, Küchenreinigungstuch, Marker, dreizehn kleine Motoren
Basierend auf ihrem fiktiven Theaterstück »A no san fesi e sori, ati e tyari« zeigt die gleichnamige Videoinstallation eine chaotische Atmosphäre zwischen dem tief verwurzelten Unterbewusstsein und dem bewussten Verstand der Protagonistin, Christien. Gefangen zwischen Einsamkeit, Hass, Trauma, Vertrauen und Verwirrung, fragt sie sich, wie sie jemandem etwas erklären kann, wenn sie es selbst nicht einmal versteht. Die Installation erzeugt abstrakte und konkrete Wiederholungen – mehrere auf Holzkohle gestapelte Fingerskulpturen werden von Wandzeichnungen begleitet. Im Rhythmus der Installation schafft Barsatie eine Meditation des Raumgebens, der Verbrennung des inneren Gedankens, der Verarbeitung und des Loslassens.
Razia Barsatie (*1982 in Paramaribo) lebt und arbeitet in Amsterdam, wo sie ihre Forschungen über Geruchserhaltung, Erinnerung und das Häusliche als Raum emotionaler Unterdrückung fortsetzt. Sie absolvierte die Rietveld-Akademie und ist derzeit Resident an der Rijksakademie in Amsterdam. Zu ihren jüngsten Ausstellungen gehören Nieuwe Kerk Amsterdam, Nieuw Dakota und Theater Thalia in Amsterdam, Künstlerresidenzen und Ausstellungen in Moengo, Surinam, Thami Mnyele Foundation Award in Amsterdam, CARMA in Französisch-Guayana und das Caribbean Linked III Atelier '89 in Aruba.
Song Credits:
Maa-mujhe-apne-aanchal | Sängerin: Fariz Barsatie
Maa-ki-dua-jannat-ki-hawa |Sänger: Muhammad Hassan Raza Qadri
Stimme:
Daniel Aguilar Ruvalcaba | Diana Cantarey | Özgür Atlagan | Salim Bayri | Aldo Esparza Ramos | G | Lungiswa Gqunta | Claudia Pagés Rabal | Tomasz Skibicki | Mette Sterre | Sungeun Lee | Anh Tran
Dank an:
Schrijversvakschool | Vincent Reit | Faaria Kasiem | Niaaz Kasiem | Ansuya Blom |
Annelie Musters | Ratu Saraswati | Elke Uitentuis
Installationsaufnahmen: Courtesy of the Artist and Rijksakademie Archive
Porträtbild: Marjet Zwaans
Website der Künstlerin:
Im Rahmen der Ausstellung Pierre Verger in Suriname lädt Willem de Rooij die Künstler*innen Razia Barsatie, Ansuya Blom, Ruben Cabenda und Xavier Robles de Medina ein, ihre Werke auf der Portikus-Website zu zeigen. Das Programm Flux und Reflux – A Selection of Moving Images stellt vier zeitgenössische Künstler*innen vor, die einen Bezug zu Surinam haben. Die Videoarbeiten werden jeweils für zwei Wochen online verfügbar sein:
17.06.–01.07.2021
Ruben Cabenda
Nieuwe herinneringen aan oude huizen, 2019
Ruben Cabenda entwickelt seine Animationsfilme aus Ideen, Skulpturen, Zeichnungen und Gemälden, die ihm dazu dienen, Fragen der Identität und des kulturellen Erbes, der Religion und der Sklaverei zu behandeln und synthetisiert in ihnen neue Ideen. Als Loops präsentiert, machen sie sich durch ihre Wiederholung die Kraft des bewegten Bildes zunutze.
Ruben Cabendas Animationsfilme untersuchen die Auswirkungen des Erbes der Sklaverei auf die Menschen in Surinam und das fortbestehende koloniale Erbe, das noch immer den Alltag dort mitbestimmt. Der Künstler beobachtet und reflektiert, wie die Menschen in Surinam sich mit ihrem kulturellen Erbe auseinandersetzen, versuchen, sich davon zu lösen und wie dies ihre Vorstellung von „Selbst" beeinflusst. Identitätspolitik, sowohl global als auch in Surinam, steht im Mittelpunkt seiner Arbeit. Mit seinen Animationen versucht er, das Bewusstsein der Betrachter*innen für ihre eigene Identität und Herkunft zu schärfen.
Ruben Cabenda (*1989 in Paramaribo) lebt in Paramaribo. Er absolvierte die Nola Hatterman Art Academy in Paramaribo, wo er bis 2018 unterrichtete sowie die Rietveld Academy in Amsterdam. Ausgewählte Ausstellungen umfassen die National Gallery of Jamaica, Moengo Festival of Visual Arts, Nest Lowlands, Oude Kerk, Amstelkerk und Prinsenkwartier in Amsterdam, die Kunstvereniging Diepenheim und No Man's Art Pop-up Gallery Teheran.
Bevorstehende Künstler*innen in der Programmreihe:
24.06.–08.07.2021
Ansuya Blom
01.07.–15.07.2021
Razia Barsatie
Im Rahmen der Städelschule Lectures sprachen Angela Lühning, Carl Haarnack, Oliver Hardt und Willem de Rooij im November 2020 über historische Bildwelten aus Surinam.
Gäste:
Angela Lühning - Direktorin der Stiftung Pierre Verger, Salvador da Bahia
Carl Haarnack - Kurator, Schriftsteller und Archivar, Gründer von Buku - Bibliotheca Surinamica, Amsterdam
Willem de Rooij - Künstler und Pädagoge, Berlin
Moderiert von Oliver Hardt - Filmemacher, Frankfurt am Main
Sind wir außerhalb der Ausstellungshalle noch ständig konfrontiert mit einer gewissen aufgewühlten Unruhe angesichts der globalen Pandemie, so tritt uns innerhalb der Ausstellung eine zuversichtliche, fast humoristische Stimmung entgegen. Dies könnte auch als Reaktion auf die letzten Monate gelesen werden, die alles andere als strikt, geplant oder greifbar waren. Der Blick in die Zukunft ist nicht nur der Absolvent*innenausstellung per se und der Natur eines Studienabschlusses inhärent, sondern auch in der optimistischen Atmosphäre der Arbeiten.
L’Esprit lautet der Titel der diesjährigen Absolvent*innenausstellung der Städelschule, die einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft richtet. Mit Geist oder Verstand kann der französische Begriff übersetzt werden, der auch im Deutschen verwendet wird. Eine Person mit Esprit könnte auch mit den Adjektiven geistvoll oder gewitzt beschrieben werden – eines hat diese Begriffsgruppe allerdings gemeinsam: die Konnotation fällt positiv und schwungvoll aus, wenn die einhergehende Stimmung beschrieben werden müsste. Genauso wenig wie der Geist greifbar ist, ist auch der Esprit nicht materiell, nicht fassbar und verweist lediglich auf eine auratische Dynamik, mit der die Räume des Portikus durchschritten werden können.
22 Absolvent*innen aus allen Klassen der Städelschule stellen im Portikus ihre medial unterschiedlichen Werke aus: sowohl Malerei und Bildhauerei als auch Video- und performative Kunst ist ausgeglichen vertreten. Mag es auf den ersten Blick scheinen, als wären die Kunstwerke in dem nicht allzu großen Gebäude auf der Maininsel dicht gedrängt, so wird man schon im ersten Ausstellungsraum vom Gegenteil überzeugt. Wir fragen uns, ob wir vielleicht im Zuge der letzten Monate schlichtweg sensibler geworden sind, was den Umgang mit Raum betrifft? Auf den privaten Raum sind wir verstärkt verwiesen, wobei der öffentliche umsichtiger begangen wird.
Für L’Esprit werden im Portikus nicht nur die große Halle und das Mezzanin als Ausstellungsfläche benutzt, sondern auch der Shop, das Büro und der Garten. So stellten sich die Kurator*innen Sophie Buscher und Alke Heykes der Herausforderung, jeder Arbeit genug Raum zu geben. Das Ergebnis kann kaum in Frage gestellt werden – schnell ist man davon überzeugt, dass jedes Werk seinen eigenen Platz gefunden hat und sie dennoch miteinander in einen Dialog treten können. Wir überlegen uns, ob sich das auf die Graduierten und ihre Zeit an der Städelschule und in Frankfurt übertragen lässt?
Sinnbildlich wird diese Frage von Matt Welch beantwortet, der in seiner Skulptur Mechanical assimilation into a bad environment (die Verdauung) (2020) das Innere eines überdimensionierten Magens darstellt. Das Verdauungsorgan ist aus Glasfaser und Harz gefertigt und das Innere, das dort zum „Verdauen“ bereit liegt, besteht aus Geschirr und Essensresten. Auf einen zweiten Blick lassen sich die Teller und Tassen als Eigentum der Mensa der Städelschule identifizieren. Es stellt eben einen großen Schritt dar, die behütende Kunsthochschule zu verlassen, die den Künstler*innen Freiheit zum Experimentieren gibt, und sich nun auf eigenen Beinen einen Weg durch die Kunstwelt zu bahnen. Wie ein Fels in der Brandung lässt die Arbeit Interface (2020) vom Künstlerduo Timon und Melchior Grau den Portikus in regelmäßigen Sequenzen aufleuchten. Ihre Installation befindet sich auf dem Mezzanin und besteht aus drei kokonförmigen Objekten, die wie milchglasige Leuchten anmuten. Sie beschäftigen sich in ihrem Werk hauptsächlich mit den Grenzen zwischen Design und Kunst und der Verortung von Objekten und Subjekten innerhalb dessen. Die Arbeit, die für die Absolvent*innenausstellung entstanden ist, lässt dennoch weitere Interpretationsräume offen. Die Künstlerin Živa Drvarič spielt ebenfalls mit unseren Sehgewohnheiten und normativen Funktionalitäten von Objekten. Ihre Arbeiten befinden sich sowohl im Unter- als auch im Obergeschoss der Ausstellungshalle und präsentieren sich in einem neutralen, sehr klaren Gestus. Beispielsweise die Arbeit Emptiness (2020) erhebt zwei Glasflaschen ihrem Nutzen und lässt sie flach übereinander liegen. Vielleicht auch ein Blick ins vorerst Leere oder Ungewisse, allerdings aus einer optimistischen, experimentellen Perspektive? Vor einem Fenster im Untergeschoss hängt eine der drei gezeigten Werke des Künstlers Shaun Motsi. Die kleinformatigen, mit pastosem Farbauftrag angefertigten Malereien interessieren sich auf ihre Weise ebenfalls für Fragen nach Sichtbarkeit und Blickrichtungen. In der Arbeit Bad-Bar Blues(2020) ist eine hinter einer Pflanze versteckte Skulptur eines Schwarzen Saxophonspielers abgebildet, die ursprünglich als Dekorationsobjekt diente. Der Künstler hinterfragt die koloniale und exotisierende Geste, die in dem Objekt steht, ohne der Betrachter*in einen direkten Blick auf die Figur zu gewähren: so ist sie nur schemenhaft erkennbar. Die Videoinstallation von Yong Xiang Li und die Arbeiten von Johanna Odersky eröffnen in einer verspielt-romantischen Ästhetik einen Blick auf Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Innen- und Außenwelt. Steht bei Odersky vor allem die Zärtlichkeit ihrer Skulpturen im Mittelpunkt, eröffnet Xiang Li in seiner Adaption eines Romans eine utopische Welt, die Grenzen zwischen Spezies aufbricht. Dies lässt beide Arbeiten für die Besucher*innen in einen Dialog treten. Die Videoarbeit von Andrew Wagner vermag es mit ihrer linearen, humoristischen Narration ebenfalls, die Betrachter*innen in ihren Bann zu ziehen – ebenso wie die vielen weiteren Arbeiten in L’Esprit.
Der Portikus eröffnet uns mit der Ausstellung einen Gegenpol zur alltäglichen Unruhe. Die Absolvent*innenausstellung ermöglicht Einblicke in 22 verschiedene Praxen, die ihre selbstbewussten, individuellen Handschriften deutlich machen – so kann ihnen nur das Beste für ihren Weg hinaus aus dem sicheren Hafen der Kunsthochschule gewünscht werden.
Louisa Behr, BA Kunstgeschichte und Theater- und Medienwissenschaft, ist derzeit Studentin des Masterprogramms Curatorial Studies an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule und der Goethe Universität Frankfurt/Main.
Johanna Weiß, BA in Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte, studiert seit Herbst 2019 im Master Curatorial Studies an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule und der Goethe Universität Frankfurt/Main.
"Zahl" von Levi Easterbrooks
"Kopf" von Janique Préjet Vigier
Moyra Davey, Hell Notes (still), 1990/2017.
Was an den andren Waren vergeht, ist eben ihre Form; aber diese Form gibt ihnen ebenso den Tauschwert, während ihr Gebrauchswert im Aufheben dieser Form, der Konsumtion, besteht. Beim Geld dagegen ist seine Substanz, seine Materialität, die Form selbst, in der es den Reichtum repräsentiert. Wenn das Geld als an allen Orten, der Raumbestimmung nach allgemeine Ware erscheint, so jetzt auch der Zeitbestimmung nach. Es erhält sich als Reichtum in allen Zeiten. Spezifische Dauer desselben. Es ist der Schatz, den weder die Motten noch der Rost fressen.1
Aber was, wenn das Geld verschlungen und später dann wieder völlig unversehrt ausgeschissen würde? Sein Wert würde, trotz seiner elenden Entwürdigung in menschlichen Eingeweiden, erhalten bleiben. Sein sozialer Wert hingegen könnte ins Bodenlose fallen, wenn es mit Scheiße in Kontakt gekommen und durch sie hindurchgegangen wäre, und es würde noch lange, nachdem es gesäubert worden wäre, Ekel auslösen.
Durch diese Passage vom Mund zum Anus oder, in konventionellerem Gebrauch, von der einen Hand zur andern oder vom Portemonnaie in die Kasse, können sich, ungeachtet des durch die metallische Substanz einer Münze gegebenen Eindrucks von Dauerhaftigkeit, im Laufe der Zeit minimale Abreibungen und Abtragungen ansammeln. Gegen Marx ist ein Kupferpfennig metallisches Geld, das oxidiert und rostet. Seine Bewegung bringt auch Verschleiß und die allmähliche Anhäufung von Schmutz, Schleim oder anderen Ausscheidungsstoffen mit sich, mit denen die Straßen der Städte ebenso wie die Finger überzogen sind, die sie verdrossen in Spardosen fallen lassen oder in Wunschbrunnen werfen. Auch wenn die Oberfläche eines Pennys im Licht strahlen mag, ist sein metallischer Glanz, trotz des kühlen institutionellen Affekts, den silberne Türen und Drehkreuze erzeugen, nicht gleichbedeutend mit dem Sauberen oder Hygienischen. Hinter dem warmen reflektierten Licht des Kupfers kann sich eine pockennarbige Oberfläche mit Scharten und Schrammen verbergen, wo sich der Schmutz in den Spuren prekärer Dauerhaftigkeit versteckt. Ohne Makroobjektiv oder einen Test auf Bakterienkulturen bleibt dieser Dreck unter dem spiegelnden Kupferschein trotz aller verbreiteten Mahnungen, dass Geld schmutzig sei, meistenteils unbemerkt. Diese moralistischen Mahnungen sind im Allgemeinen zweideutige Verunglimpfungen von Sexarbeitern und Bettlern. Hier ist Kleingeld zwischen jenen im Umlauf, die als sozial und physisch unsauber bestimmt sind.
Ein Freund aus der High School steckte sich einmal einen Penny in seinen Anus, holte ihn wieder heraus und warf ihn einer Gruppe von Freunden auf der Couch zu, die sofort voller Ekel auseinanderstob. Abgesehen von der komischen Übersteigerung, die diese Geste aus der Verbindung von Münzgeld und dem Analen machte, ließ sie auch deutlich werden, weshalb Geld im Prozess seiner fäkalen Abjektion und langsamen Auflösung im Tausch seinen Wert erhält. „Wir schätzen Geld, weil wir unsere Scheiße schätzen.“2
Wie Exkremente ist Münzgeld vom menschlichen Körper ablösbar, kann ungehindert durch Kanäle des Austauschs und der Wertverwandlung fließen, die über einzelne Personen hinausgehen. Seine Wandel- und Veränderbarkeit erlauben es dem Geld, als Währung zu fungieren, die beim Kauf von Waren verschiedener Art akzeptiert wird. Einige wenige Münzen sind gleich einem Abstecher zur Bahnhofstoilette ebenso wie einer Tafel Schokolade oder einem Paket Butter.
Moyra Davey, Auszug azs Hell Notes, 1990/2017, Super-8 Film mit Ton, übertragen auf HD Video, 26 min. 16 sec.
Wie könnte eine durch Video erzählte Nebengeschichte des Portikus aussehen? Helke Bayrles Portikus Under Construction liefert die Bilder zu dieser Geschichte, indem es ein institutionelles Gedächtnis und eine Reihe von Kunstwerken aus dem konstruiert, was beinahe immer getilgt und ausgeblendet wird: die Arbeit, die in den endgültigen, der Öffentlichkeit präsentierten Installationen im Hauptsaal außen vor bleibt. Auch wenn die in diesem Screening-Programm gezeigten Kunstwerke an sich keinesfalls Nebenwerke sind, operieren sie außerhalb der Grenzen früherer Beiträge, die diese Künstler zum Vermächtnis der Ausstellungen im Portikus geleistet haben. Fast keiner dieser Filme oder Videos wurde zuvor in den Sälen des Portikus gezeigt, doch in ihrer Summe und in ihrer Abweichung von der Norm bieten sie ein Vehikel zur Reflexion. Diese Beziehungen sollen sich durch die Methoden des Programms ziehen, und so werden Zusammenstellungen aus Filmen und Videos den Wert des Mangels, des Ungewissen, des Sekundären, des Dunklen, des Vergessenen und des Nichtklassifizierbaren beleuchten. Von Bayrle inspiriert, versucht das Projekt, aus diesen uneindeutigen Positionen eine Nebengeschichte des Portikus zu konstruieren.
Programm:
19.07.2017
1. Filming Lack
-Martha Rosler, Secrets From the Street: No Disclosure (1980)
-Thirteen Black Cats, Corpse Cleaner (2016)
26.07.2017
2. Dara Friedman
-Dara Friedman, Dancer (2011)
Dancer wurde im Portikus gezeigt und ergänzte damit die Präsentation einzelner Fragemente, die im Rahmen von Portikus XXX im Flughafen Frankfurt geziegt wurden.
02.08.2017
3. Procession/Parade
-Dieter Roth, Dot (1960) and Pop 1 (1957-1961)
-Josef Strau, Untitled (slide projection) (2012)
-Nina Könnemann, Pleasure Beach (2001)
-Mike Kelley, Bridge Visitor (Legend-Trip) (2004)
-Jimmie Durham, Smashing (2004)
09.08.2017
4. Sound Bleed
-Minouk Lim, New Town Ghost (2005)
-Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, Collapse (2009)
-Lawrence Abu Hamdan, The All Hearing (2014)
-Dan Graham, Minor Threat (1983)
-Dan Graham & Glenn Branca, Performance and Stage-Set Utilizing Two-Way Mirror and Video Time Delay (1983)
16.08.2017
5. Non-work
-Frances Stark, Cat videos (1999-Present)
At Home 1999/1999 (w/ Stephen Prina’s The Achiever) (1999)
Thinking About Writing (w/ Joan Didion interview on public radio) (2001)
At My Desk (w/ Björk’s “Pluto”, circa 1997) (2002)
-Helke Bayrle, Portikus Under Construction (1992-Present)
Frances Stark (2008)
Morgan Fisher (2009)
-Morgan Fisher, Standard Gauge (1984)
Eine Schriftensammlung von Mike Kelley trägt den Titel „Minor Histories: Statements, Conversations, Proposals“.1
Bei den Texten handelt es sich insofern um Sekundärwerke, als sie nicht im Mittelpunkt seiner Ausstellungen standen, sondern eher den textlichen Rahmen für Kunstwerke und Videos bildeten. Wenn Kelleys Skulpturen und Videos im Vordergrund von Ausstellungen stehen, in denen nur wenige oder gar keine Texte gezeigt werden, dann könnte man sagen, dass die betreffenden Texte sekundär sind (oder gemacht werden), auch wenn sie vielleicht einen wesentlichen Anteil an Kelleys Kunst haben. Was an den Rand des Bewusstseins gedrängt wird, was in dieser Weise untergeordnet wird, ist immer auch nebensächlich (minor). Das Nebensächliche ist das, was im Verhältnis zu einem größeren Projekt – in diesem Fall eine Kunstausstellung – von geringerer Bedeutung ist. Andererseits könnte man die Bedeutung großer Werke aber auch durch die Brille von Voraussetzungen betrachten, die durch nebensächliche Materialien erst geschaffen werden. Kelleys „Minor Histories“ nehmen Einfluss auf das Verständnis seiner bedeutenden Werke, da die Texte seine Werke im Nachhinein verändern, indem sie etwas hinzufügen, das vorher nicht zugänglich war. Dieser Schritt – vom Hauptsächlichen zum Nebensächlichen, von Makro zu Mikro – ist auch ein Merkmal der Mikrogeschichte als einer geschichtswissenschaftlichen Forschungsrichtung. In einem Vorwort zur italienischen Ausgabe von „Der Käse und die Würmer: Die Welt eines Müllers um 1600“ (eine der ersten mikrohistorischen Studien), schreibt der italienische Gelehrte Carlo Ginzburg:
In der Vergangenheit konnte man Geschichtswissenschaftlern vorwerfen, dass sie nur an den „großen Taten der Könige“ interessiert seien, doch das trifft heute sicherlich nicht mehr zu. Sie beschäftigen sich immer häufiger mit dem, was ihre Vorgänger stillschweigend übergangen, verworfen oder schlichtweg ignoriert haben. „Wer baute das siebentorige Theben?“ fragte schon Bertold [sic] Brechts „lesender Arbeiter“. Die Quellen teilen uns nichts über diese anonymen Maurer mit, doch die Frage bleibt in ihrer ganzen Bedeutungsschwere stehen.2
Das ist der Ethos der Mikrogeschichte und auch der „Minor Histories“ und des Screening-Programms, bei denen es jeweils darum geht, das Nebensächliche und das Sekundäre in den Vordergrund zu stellen und so verschiedene historische Neubetrachtungen zu ermöglichen.
Wenn ich auch im Weiteren die Begriffe „nebensächlich“ und „sekundär“ verwende, beabsichtige ich durch diese nominale Klassifizierung keineswegs die Bekräftigung einer Werthierarchie, die solche Materialien einem Hauptprojekt, was auch immer sich dahinter verbergen mag, unterordnet. Hinter diesem Screening-Programm steht die Absicht, den Wert der Auseinandersetzung mit dem bzw. in dem Sekundären oder Nebensächlichen zu beleuchten, um genau das zum zentralen Thema und Untersuchungsziel zu machen, trotz der Diskreditierung des entsprechend eingeordneten Materials. Die Begrifflichkeiten sind ohnehin immer relativ.
In dieser Programmreihe werden die im Portikus gezeigten Ausstellungen und deren einzelne Kunstwerke zur „Hauptsache“. Das, was außerhalb davon liegt (z.B. die anderen Kunstwerke der Künstler, die Programmelemente, die anderswo in den Räumlichkeiten der Institution stattfinden, und die Veranstaltungen, die sich den üblichen zeitlichen Rahmenbedingungen der Ausstellung entziehen), wird zur Nebensache oder sekundär.
Helke Bayrles aktuelles Videoprojekt, Portikus Under Construction (1992 bis zur Gegenwart) arbeitet mit der Inszenierung kurioser Paradoxa nach eben diesem Schema. Ihre Videos zeigen die Arbeiten im Portikus vor der Ausstellungseröffnung – wie Gerüste auf- und wieder abgebaut, Kunstwerke eingepackt und Pläne durchgeführt oder verändert werden, wenn irgendwelche unvorhergesehenen Schwierigkeiten auftreten. Obwohl all diese Vorkommnisse und Vorgänge von grundlegender Bedeutung für die Inszenierung einer Ausstellungen in der Galerie sind, spielen sie bei der Präsentation der Kunstwerke am Ende doch nur eine Nebenrolle. Über Bayrles Projekt schreibt Kirsty Bell:
Helke Bayrle richtet ihr Augenmerk auf die Details am Rande, auf unscheinbare Gesten, auf banale Vorgänge, um genau diese Aspekte des kreativen Prozesses zu erfassen: die Dinge, „die als selbstverständlich hingenommen werden, es aber nicht sind.3
Helke Bayrle, Portikus Under Construction (Frances Stark), 2008.
Thirteen Black Cats, Corpse Cleaner, 2016, Mit freundlicher Genehmigung der Künstler.
Morgan Fisher, Standard Gauge, 1984, 16-mm, Farbe, Lichtton, 35 min., Mit freundlicher Genehmigung der Galerie Buchholz, Berlin/Köln/New York.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wacht die Statue of Liberty vor der Küste New Yorks über die Freiheit und deren Einhaltung im Land. Verschifft wurde die kolossale Statue in Einzelteilen von Europa aus nach Amerika. Sowohl die Freiheitsstatue als auch die geschriebene Verfassung aus dem 18. Jahrhundert, die die Lady of Liberty, wie sie umgangssprachlich genannt wird, in den Händen hält, verkörpern und symbolisieren einen westlichen Freiheitsgedanken, der bis heute Gültigkeit besitzt. Dieser beinhaltet unter anderem die Freiheit eines Einzelnen die eigene Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern, rechtlich gesichert in einer Verfassung. In Deutschland ist zum Beispiel die Freiheit auf Meinungsäußerung im Artikel 5 des Grundgesetzes verankert. Heutzutage ist dies mehr denn je ein essentielles und zu schützendes Recht, das jedoch immer wieder an seine Grenzen gerät.
Danh Vo, WE THE PEOPLE, 2011, Kupfer, 223 × 155 × 107 cm, Kadist Sammlung, Foto: Helena Schlichting
Danh Vo, WE THE PEOPLE, 2011, Kupfer, 223 × 155 × 107 cm, Kadist Sammlung, Foto: Helena Schlichting
Anlässlich Amy Sillmans Ausstellung the ALL-OVER im Portikus spricht Bernard Vienat im Interview mit der Künstlerin über ihre Anfänge und ihre künstlerische Praxis.
BERNARD VIENAT: Deine Karriere nahm ihren Anfang in den 1970er Jahren, zu einer Zeit als John Baldessari seine Malereien verbrannte. Man begegnete diesem Medium damals sicherlich mit Vorbehalt. Wie hast du dich dem Problem des künstlerischen Überlebens gestellt?
AMY SILLMAN: In den 1970er Jahren hatte ich keine “Karriere”, ich ging erst 1979 von der Schule ab. Und Gedanken an eine berufliche “Karriere” wären damals gar nicht bei uns aufgekommen. Ich habe tagsüber gejobbt, um das Überleben zu sichern: In den 80ern arbeitete ich bei einigen Zeitschriften, dort übernahm ich die sogenannten “paste ups”, d.h. wir fixierten die Bilder und den Drucksatz mit Wachs. Ich war zwar keine Punkerin mit Iro, war aber dennoch von einem punkartigen Ethos erfüllt. Vieles von dem, was ich tat, war hintergründig von einer “Fuck you” Einstellung bestimmt. Wie zum Beispiel: “Ich soll nicht mehr malen? Fuck you!”, “Ich soll mich um Ruhm und Ansehen bemühen? Fuck you!” Negation war bei mir so eine Art Prinzip. Das war das Ethos der Zeit und ich habe weitergemalt, als eine Art lustbringende Verkehrung dessen, was von uns erwartet wurde.
VIENAT: Wie kam dir erstmals der Gedanke Künstlerin werden zu wollen? Und das im Bereich der Malerei?
SILLMAN: Ich ging nicht nach New York um künstlerisch tätig zu werden, sondern um an der New York University japanisch zu studieren. Ich hatte eine wilde Reise durch Japan hinter mir und mein Interesse war geweckt, eine fremde Sprache zu studieren und zwar eine Sprache, die den meisten meiner Bekannten unentzifferbar wäre. Ich war von der Vorstellung angezogen, kodiert schreiben zu können, darum habe ich japanisch studiert. Nebenher habe ich Zeichenunterricht genommen. Der Lehrer war ein “action painter“ (dt. Aktionsmaler), der während des Unterrichts tatsächlich Jazzmusik spielte und uns lehrte, wie man ein Aktmodell betrachtet, es dann aber mit Terpentin getränkten Lappen zu zeichnen. Bei dieser Lehrveranstaltung kam mir plötzlich der Gedanke: “Mein Gott, das ist ja auch eine Art von kodierter Sprache!” So etwas war mir anfänglich nicht aufgefallen, weil mir Vorbilder fehlten, die es mir erlaubten, mich als Künstlerin zu erkennen. Ich kam also auf Umwegen mit dem Pinsel in der Hand auf diesen Weg.
VIENAT: An welchen weiteren Lehrveranstaltungen hast du danach teilgenommen?
SILLMAN: Neben dem “Aktionsmaler” gab es all diese für die 70er Jahre typischen Figuren: FeministInnen, KonzeptkünstlerInnen, FilmemacherInnen und KünstlerInnen, die das Arbeiten im Atelier ablehnten. Ungefähr 95% meiner Freunde hatten der Malerei den Rücken gekehrt, weil die Malerei eine schlechte Politik zu verkörpern schien. Die Neo-Expressionistische Kritik war in vollem Gange. Meine Freunde besuchten allesamt Lehrveranstaltungen von Joseph Kosuth oder Hans Haacke. Zu malen galt als überhaupt nicht angebracht, ich habe mich trotzdem dazu hingezogen gefühlt.
VIENAT: Deine Karriere begann, nachdem bedeutsame TheoretikerInnen die Malerei und die Art und Weise sie zu betrachten, behandelt hatten. Wie war deine Reaktion zum Beispiel auf Greenbergs Theorien? Wir sprachen ja vorhin vom Punkethos, dachtest du dir dann nicht: Mein Vater will es so, deshalb bin ich dagegen?
SILLMAN: Aber Greenberg war ja nicht mein Vater! Wenn überhaupt war er so etwas wie ein Großvater. Ich kannte damals niemanden, der Greenberg las und ich selbst verstand auch wenig von den Konflikten und Auseinandersetzungen innerhalb der Kunstgeschichte. Sein Artikel zu Kitsch und der Avantgarde hat mich durchaus interessiert. Generell betrachtet, haben wir in den 70ern kaum etwas zur Maltheorie gelesen. Malerei war ein totgeborenes Unterfangen. Ich habe das jemandem mal beschrieben als das Besetzen eines verfallenen Gebäudes. Meine Ideen stammten allesamt von woanders: Tanz, Performance, Experimentalfilm, und Literatur. Ich konnte gar nicht in dem System Malerei arbeiten, weder in dem von OCTOBER noch in dem von Greenberg.
Amy Sillman, Draft of a Voice-over for Split Screen Video Loop, in Zusammenarbeit mit Lisa Robertson, Ausstellungsansicht, 12.05.–28.06.2012, castillo/corrales, Paris
Amy Sillman, the ALL-OVER, Ausstellungsansicht, 02.07.–04.09.2016, Portikus, Frankfurt/Main. Photo: Helena Schlichting. Courtesy: Portikus, Frankfurt/Main.
Amy Sillman, the ALL-OVER, Ausstellungsansicht, 02.07.–04.09.2016, Portikus, Frankfurt/Main. Photo: Helena Schlichting. Courtesy: Portikus, Frankfurt/Main.
Shahryar Nashat, Present Sore, 2016, Video.
Eine der neusten Arbeiten des Künstlers Shahryar Nashat ist Present Sore (2016), ein zusammengesetztes Porträt des Körpers im 21. Jahrhundert, der durch organische ebenso wie künstliche Substanzen vermittelt wird. Im folgenden Interview sprechen Isla Leaver-Yap, Walker-Bentson-Filmwissenschaftlerin, und Fabian Schöneich, Kurator des Portikus, mit Nashat darüber, was seine Arbeit antreibt – die Politik des Körpers, dessen digitale und physische Erweiterungen und seine Obsoleszenz.
Present Sore wird vom 8. April bis 31. Mai 2016 im Rahmen der Walker’s Moving Image Commissions online im Walker Channel präsentiert. Außerdem ist die Arbeit in der Ausstellung Model Malady im Portikus (23. April–19. Juni 2016) zu sehen.
FABIAN SCHÖNEICH: Deine neuste Videoarbeit Present Sore wird online auf dem Walker Channel gestreamt sowie in deiner Ausstellung im Portikus als Installation gezeigt. Die Arbeit hat ein vertikales Format, 9:16 statt 16:9. Das erinnert mich daran, wie die Leute Videos mit ihren Smartphones machen. Kannst du sagen, was dich zu deiner Entscheidung geführt hat, die Kamera zu drehen?
SHAHRYAR NASHAT: Das stimmt – durch Smartphones ist die Verwendung des Hochformats allgemein üblich geworden. Als ich für meine erste Ortsbesichtigung den Portikus besuchte und die Räume sah, erkannte ich sofort, dass ein Video im 16:9-Format durch die Höhe der Räume erdrückt werden würde. Darüber hinaus habe ich immer Schwierigkeiten mit dem Format 16:9 gehabt, weil man das Bild nie ausfüllen kann, wenn man Gliedmaßen vertikal einfangen will. Present Sore ist eine indirekte hochauflösende Figurenstudie eines zusammengesetzten Körpers. Der Aufwärtsverlauf des Videos (von den Füßen zum Kopf) machte das Hochformat notwendig.
SCHÖNEICH: Deine Arbeit befragt und beleuchtet häufig die Homogenität von Objekt und Körper. Abstrakte, aber sterile Objekte stehen repräsentativ für den Körper oder umgekehrt, der Körper steht repräsentativ für das Objekt oder die Skulptur. In Present Sore sehen wir den menschlichen Körper nicht als Ganzes, sondern nur im Detail – etwa in der Nahaufnahme eines Knies oder einer Hand.
ISLA LEAVER-YAP: Absolut. Indem sich Present Sore auf Details konzentriert, fragmentiert es das Subjekt, zeigt die mechanischen beweglichen „Teile“ des Körpers und isoliert deren Funktion als Werkzeuge. Diese Fragmentierung bezieht eine umfassendere kulturelle Landschaft ein, die bestimmte Arten von Körpern bevorzugt, und verweist auch auf eine ökonomische Landschaft, die die Bestandteile der Arbeit unsichtbar macht – sowohl die menschlichen wie die nicht-menschlichen. Ich habe mich gefragt, Shahryar, ob du etwas über diese Eigenschaft des „Zusammengesetztseins“ sagen könntest, über die du eben gesprochen hast, und über die Körper, Typen und Gender, die du zu deinen Sujets machst?
NASHAT: Die vorherrschende kulturelle Repräsentation des menschlichen Körpers privilegiert einen homogenen und ganzheitlichen Körper. Ich habe immer versucht, Körper darzustellen, die sich außerhalb dieser traditionellen Ideale befinden. Die Körper, für die ich mich interessiere, können verschiedene motorische Funktionen haben, kosmetische Eingriffe und Erweiterungen. Wie etwa der verletzte Ellbogen in Hustle in Hand (2014, Video, 19 Min.). Aus diesem Grund mag ich Wunden oder Prothesen. Sie verweisen auf Verletzungen und insofern auf eine Anomalie. Auch Gliedmaßen sind auf ähnliche Weise interessant. Vom Rest des Körpers isoliert, hinterfragen sie ihn und erlauben zugleich eine psychologische Distanz zu der Vorstellung der Person. Hier eröffnet sich für mich ein Weg zur Begierde und zur Projektion.
Shahryar Nashat, Hustle in Hand, 2014, HD video, 10 minutes
Courtesy Rodeo, London; Silberkuppe, Berlin.
Shahryar Nashat, Present Sore, 2016, Video.
Shahryar Nashat, Factor Green, Ausstellungsansicht, 54th International Venice Biennial, 2011
Courtesy Rodeo, London; Silberkuppe, Berlin. Foto: Gaëtan Malaparte.
Menschen stehen unter dem schattenspendenden Vordach einer Tankstelle. Dunkler Rauch steigt auf. Ein junger Mann kreist mit einer Steinschleuder über seinem Kopf. Es ist der 15. Mai 2014 um 13.45 Uhr im Westjordanland. Ein Mann mit Rucksack läuft ins Bild. Wenige Sekunden später trifft ihn von hinten eine Kugel. Er fällt zu Boden. Helfer stürmen herbei. Es ist der 15. Mai 2014 um 14.58 Uhr. Noch mehr grauer Rauch strömt auf. Von rechts läuft ein Mann ins Bild. Er wird in die Brust getroffen und fällt zu Boden. Helfer eilen herbei. Die Bilder der Überwachungskamera zeigen die Morde an Nadim Siam Nawara, 17 Jahre, und Mohammad Mahmud Odeh Abu Daher, 16 Jahre, die sich während der Demonstrationen am Nakba-Tag nahe des israelischen Militärgefängnisses Ofer bei Ramallah ereigneten.
„Keines dieser Kinder stellte eine direkte oder indirekte Bedrohung (der Soldaten) dar, als sie erschossen wurden. Diese Taten der israelischen Soldaten könnten ein Kriegsverbrechen bedeuten“, erklärte Rifat Kassis, der Sprecher der Menschenrechtsorganisation Defence for Children International, wenig später der Öffentlichkeit. Vom Tatort existieren neben den Überwachungsbildern auch Tonaufnahmen eines Fernsehteams, die als Beweismittel in einer audioballistischen Analyse klären sollen, wie und aus welcher Richtung auf die beiden unbewaffneten palästinensischen Jugendlichen geschossen wurde. Die entscheidende Frage ist, ob es zum Einsatz von scharfer Munition oder von Gummigeschossen gekommen ist, wie die Soldaten des israelischen Militärs zu ihrer Verteidigung aussagten. Die Untersuchung soll nun die Morde aufklären.
Zwei Jahre später entwickelt Lawrence Abu Hamdan für den Portikus die Arbeit Rubber Coated Steel, der es gelingt, die Ereignisse zu rekonstruieren und die am Tatort aufgezeichneten Töne als lesbare Bilder sichtbar werden zu lassen. Seine raumgreifende Installation setzt sich aus visualisierten Frequenzbildern der Tonspuren und gefundenen Videomaterialien zusammen, die, in der Architektur einer Schießanlage arrangiert, auch den Verlauf der Ereignisse dokumentieren. Bevor jedoch die Videoinstallation Rubber Coated Steel entstand, wurden Hamdans Erkenntnisse und die zusammen mit dem Londoner Institute of Forensic Architecture erstellten Berichte als juristische Beweismittel gegen die israelischen Soldaten eingesetzt, um ihren Verstoß gegen das Waffenabkommen mit dem Vereinigten Staaten vor dem Kongress in Washington, D.C. zu belegen.
Die Deutungskraft, die dem auditiven Material in diesem konkreten Fall zukommt, lässt sich auch in der Bedeutung wiederfinden, die Hannah Arendt dem Zuhören und Sehen für den Verstehensprozess zuschreibt. 1961 wollte sie dem Prozess gegen den SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht persönlich beiwohnen und schlug dem The New Yorker auf eigenen Wunsch vor, die Gerichtsverhandlungen als Beobachterin zu begleiten. Diese Entscheidung begründete sie in einem Brief an ihren früheren Lehrer Karl Jaspers: „[…] Ich würde es mir nie verziehen haben, nicht zu fahren und mir dies Unheil in seiner ganzen unheimlichen Nichtigkeit in der Realität, ohne die Zwischenschaltung des gedruckten Wortes, zu besehen. Vergessen Sie nicht, wie früh ich aus Deutschland weg bin, und wie wenig ich im Grunde von dieser Sache direkt mitgekriegt habe.“ 1 Arendt war darauf vorbereitet, einem Monster der Grausamkeit zu begegnen. Im Prozess erfuhr sie allerdings keine Bestätigung, sondern erlebte eine Person, die vom Schreibtisch aus Anweisungen befolgte, erteilte und sich den Konsequenzen ihres Handelns kaum bewusst schien. So entwickelte Arendt in ihrem Abschlussbericht die Denkfigur der „Banalität des Bösen“ 2 , für die sie von vielen Seiten scharf kritisiert wurde, die aber heute unser Verständnis von der Grausamkeit der Verbrechen an den Juden maßgeblich prägt.
Adolf Eichmann, Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C., Fotografie #65268, Courtesy des Israelischen Regierungspressebüros
Ähnlich wie Arendt findet Hamdan im genauen Hinschauen und Analysieren den Schlüssel, um das Unfassbare zu verstehen. Seine Untersuchung des Tonmaterials und die präzise Auswertung der Ergebnisse sind der Versuch, den tatsächlichen Einsatz der scharfen Munition gegen die Jugendlichen zu beweisen und das Verbrechen gerecht aufzuklären. Wie Arendt die Subjektivität ihres Berichts klar definierte, so reflektiert Hamdan die Bedingungen seiner Analyse, indem er den technologischen Apparat, der zwischen Ereignis und Urteil geschaltet ist, ausstellt. Er zeigt die visualisierten Frequenzbilder, präsentiert die relevanten Videoausschnitte und macht die Schüsse im Portikus immer und immer wieder hörbar. Die Situation, die wir in der Ausstellung erleben, ist nicht nur die minutiöse Rekonstruktion des Ereignisses, sondern eröffnet auch die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie die zur Verfügung stehenden Beweise analysiert, ausgewertet und interpretiert wurden. Rubber Coated Steel sucht Gerechtigkeit und reflektiert dabei, anders als juristische Berichte, wie sich fragmentarische Beweise zu einer Schlussfolgerung formieren.