Journal

Das Journal auf portikus.de dient als Erweiterung der Ausstellungen im Portikus. Verschiedene Beiträge wie Essays, Interviews, Erzählungen oder Foto- und Videobeiträge vermitteln einen genaueren Blick auf die Interessen der ausstellenden Künstler und reflektieren Themen, die unsere Gesellschaft, Politik und Kultur betreffen.

Als vor 2000 Jahren zum ersten Mal ein chinesisches Schattenspiel aufgeführt wurde, geschah dies aus Liebe. Kaiser Wu (oder Han Wudi) war über den Tod seiner geliebten Konkubine Lady Li so betrübt, dass ein Gelehrter aus Qi (ein Staat im alten China) ihren Schatten auf eine Zeltwand projizierte, um seinen Kummer zu lindern. So jedenfalls wird die Geschichte des chinesischen Schattentheaters in dem Gemeinschaftswerk Han Shu (206 v. Chr. bis 23 n. Chr.) beschrieben. Und genau diese Überlieferung wird immer wieder in Erinnerung gebracht, wenn es um die Geschichte und die Strömungen des (chinesischen) Kinos geht.

Natürlich haben sich im Laufe der Zeit die Aufführungsorte, das Publikum und die Geschichten des chinesischen Schattenspiels stark gewandelt. Ursprünglich wurde das Schattentheater in den kaiserlichen Palästen der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) aufgeführt, wo die projizierten Illusionen zum Gedenken an verstorbene Verwandte oder zur Verbildlichung der ewigen Liebe dienten.1 In den buddhistischen Tempeln der Nördlichen und Südlichen Dynastie (420 bis 589 n. Chr.) verkörperten die kunstvollen, beweglichen Figuren die zahlreichen Gottheiten des damaligen Glaubenssystems. In der Song-Dynastie (960 bis 1279 n. Chr.) fand diese Kunstform ihren Weg auf die lokalen Märkte, in Teehäuser und Restaurants und entwickelte sich schließlich zu einer populären Volkskunst. Diese Unterhaltungskunst vermischte reale historische Ereignisse mit alten Legenden und Märchen. Indem sie soziale Unterschiede verwischte, wurde sie zu einem Träger der kulturellen Identität und des kollektiven Gedächtnisses der heterogenen Bevölkerung im kaiserlichen China.

Die Geschichte des Puppenspiels ist auch eine Geschichte der Vertreibung. Im 18. Jahrhundert brachten französische Missionare die „ombres chinoises“ (Französisch für Schattenspiel) über die Seidenstraße nach Marseille, von wo aus sie in ganz Europa Verbreitung fanden. In China hingegen nahm die Entwicklung des Schattentheaters nach den Aufständen der Weißen Lotus-Bewegung2 in der Qing-Dynastie eine andere Wendung. Aus Angst vor möglichen politischen Unruhen untersagten die Behörden öffentliche Aufführungen des Schattentheaters, was zur Verhaftung der Künstler*innen und zum Rückgang seiner Bedeutung führte. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 erlebte das Schattenspiel eine kurze Renaissance, wurde aber während der Kulturrevolution im Rahmen einer landesweiten Kampagne gegen traditionelle Kultur und Religion endgültig verboten. Das Schattentheater wurde zum Spiegelbild der historischen und aktuellen Entwicklungen des Landes und seiner Beziehung zur Außenwelt. Geprägt von politischen Veränderungen und technologischem Fortschritt passte sich das traditionelle Schattenspiel den sich wandelnden Bedürfnissen und Interessen der Zeit an.

Die Verwandtschaft zwischen den Bewegtbildern des Schattentheaters und dem, was wir heute als Kino kennen, ist bereits in der Etymologie des Mandarin verankert. Während sich „yingxi“ (影戏), das „Schattenspiel“, aus „ying“ (影) für „Schatten“, „Bild“, „Fotografie“ oder „menschliche Präsenz“ und „xi“ (戏) für „spielen“ oder „Spaß haben“ zusammensetzt, unterscheidet sich die Mandarin-Übersetzung für Kino, „dianying“ (电影), davon nur durch das Zeichen „dian“ (电), das „elektrisch“ bedeutet. „Dianying“ kann wörtlich mit „elektrischer Schatten“ übersetzt werden – eine Erweiterung des traditionellen Begriffs des Schattenspiels und Zeugnis der medialen Evolution.

Seit einigen Jahren erweitert die schwedische Künstlerin Lap-See Lam das Schattentheater mit moderner Videotechnik. Ihre jüngste Arbeit Tales of the Altersea3 , die im Auftrag des Portikus entstand und dort 2023 zu sehen war, spielt vor dem Hintergrund der komplexen Geschichte und Gegenwart Hongkongs und seiner Diaspora.

Lap-See Lam, 'Tales of the Altersea', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Tomás Maglione

Bevor die Besucher*innen jedoch Lams zeitgenössische Version des Schattentheaters betreten können, müssen sie zunächst durch ein Portal auf der Portikus-Brücke gehen, auf dem zwei Drachen dargestellt sind, die eine Perle jagen und einsammeln (Portal, 2023). Das Motiv, das die meisten Besucher*innen wohl nur aus chinesischen Restaurants in Europa kennen und das deshalb vom westlichen Blick oft fehlgedeutet wird, dient hier als Aushängeschild für das Schattenspiel, das im Inneren der Galerie gezeigt wird. Der Wasserdrache, der in der chinesischen Kultur die Gottheit des Regens darstellt, schwebt zwischen den Wolken und spielt mit einer Perle. In der daoistischen Religion sammeln gütige Drachen die Perle der Weisheit aus den Nebeln des Chaos.4 Die Perle, die für den Mond, die Sonne oder die Existenz selbst steht, ist auch ein Symbol für die Stadt Hongkong, die ursprünglich als Fischer- und Perlensammlerdorf gegründet wurde und auch „Perle des Orients“ genannt wird.

Beim Betreten des Ausstellungsraums wird das Publikum aufgefordert, seine Schuhe auszuziehen – ein Ritual, das in chinesischen Haushalten, Restaurants und Teehäusern üblich ist. Im Inneren der Galerie entfaltet sich die Geschichte der Zwillinge Julie und Dahlia im Halbdunkel, das nur von sich bewegenden Figuren und einem grünen Licht, das auf eine Perle anspielt, erhellt wird. Zwei blinkende Augen über dem Eingang beobachten das Spektakel. Tales of the Altersea, Lams immersive 8-Kanal-Videoinstallation, erzählt die Geschichte der beiden Zwillinge, die auf ihrem Weg nach Europa verschiedenen Charakteren sowie unterschiedlichen kulturellen und religiösen Bezügen begegnen, die die Künstlerin elegant miteinander verwebt. Im Laufe des Stücks begegnen sie Kaiser Wu, dem Freedom Swimmer und der legendären Figur Lo Ting. Sie werden Zeuge ihrer Verwandlungen, Mutationen und Metamorphosen.

Lap-See Lam, 'Tales of the Altersea', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Alwin Lay

Der Freedom Swimmer, der für die Tausenden von Menschen steht, die zwischen 1950 und 1990 versuchten, vom chinesischen Festland nach Hongkong zu schwimmen, verwandelt sich in die legendäre Figur Da Peng, einen riesigen Vogel, der aus einem Kun-Fisch mutiert ist. Der Kun-Fisch ist ein Fabelwesen, dessen Wurzeln bis in die antiken Texte von Zhuangzi zurückreichen und dessen Symbolik häufig mit dem Phönix in Verbindung gebracht wird:

„In der nördlichen Finsternis gibt es einen Fisch und sein Name ist Kun. Der Kun ist so groß, dass ich nicht weiß, wie viele tausend Li er misst. Er verwandelt sich in einen Vogel und sein Name ist Peng. Der Rücken des Peng ist so groß, dass ich nicht weiß, wie viele tausend Li er misst, und wenn er sich erhebt und davonfliegt, sind seine Flügel wie Wolken, die den Himmel verdecken. Wenn das Meer sich zu bewegen beginnt, fliegt dieser Vogel in die südliche Finsternis, die der See des Himmels ist…“5

Diese Passage aus Zhuangzis Schriften spielt auf die transformative Reise der Zwillinge von Hongkong nach Europa an, die von der wohlwollenden Kraft des Phönix begleitet wird.

Lap-See Lam, 'Tales of the Altersea', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Alwin Lay

Lo Ting ist ein Mischwesen aus Mensch und Fisch, das in der Mythologie Hongkongs aus mündlichen Überlieferungen in historische Aufzeichnungen eingegangen ist. Er gilt als Vorfahre der Menschen, die in Hongkong sowohl an Land als auch auf dem Meer leben. Lo Ting wird erstmals in den Aufzeichnungen über die Ungewöhnlichkeit in Lingnan aus der Tang-Dynastie (618 bis 907) erwähnt, die die Region südlich der Nanling-Berge und ihre reiche Vielfalt an Kulturen wie die der Hakka, Teochew und She beschreiben.6 Auf dem Weg ins Unbekannte tauchen sowohl Da Peng als auch Lo Ting von Zeit zu Zeit als Zeichen des Wohlwollens wieder auf.

In Lams Stück werden das Unbekannte, das Warten und die nächtliche Finsternis durch eine Figur namens Hunger symbolisiert, die allegorisch auf das Fehlen von Licht anspielt. Die Düsternis des Schattenspiels könnte auch eine Anspielung auf die Hungersnöte während des Großen Sprungs nach vorn (1958 bis 1961) und die darauf folgende Kulturrevolution sein, die eine Auswanderungswelle nach Hongkong auslöste.7 Ist die Geschichte und Tradition des Schattentheaters an sich schon von Verdrängung geprägt, so handelt Lams Geschichte, deren Bildmaterial auf 3D-Scans von chinesischen Restaurants in Schweden basiert, auch von den Kämpfen, denen sich Migrant*innen auf ihrem Weg in eine unbekannte Zukunft in einem fremden Land stellen müssen.

Lap-See Lam, 'Tales of the Altersea', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Alwin Lay

Bemerkenswert an Lams Arbeit ist vor allem, dass die Künstlerin traditionelle Elemente und Verfahren aufgreift und deren antike Ursprünge in eine zeitgenössische, immersive und mehrdimensionale Erfahrung transformiert. Lam verbindet gekonnt historische Figuren wie Kaiser Wu aus dem alten China mit dem modernen Freedom Swimmer und mythischen Figuren wie Da Peng und Lo Ting aus der chinesischen Folklore in einer zeitgenössischen 8-Kanal-Videoprojektion. In einer meisterhaften Verschmelzung von Hightech und traditionellem Geschichtenerzählen demonstriert Lam eindrucksvoll die anhaltende Relevanz des Schattentheaters in der Jetztzeit. Lams Arbeit bietet eine immersive Erfahrung, die für alle zugänglich ist, und schlägt eine Brücke von den Wurzeln des Schattenspiels zu einer Vision seiner möglichen zukünftigen Form. Über den Status eines geschätzten Kulturgutes hinaus schafft diese Erweiterung neue Bedeutungen und bewahrt gleichzeitig Erinnerungen für unsere heutigen, ständig im Wandel begriffenen Identitäten.

In diesem Sinne ist Tales of the Altersea nicht nur ein immaterielles Monument für die Menschen in Hongkong und der Diaspora, sondern auch ein Symbol der Hoffnung für die vielen ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppen, die von Landverlust und Vertreibung durch Krieg, Hunger, Armut oder Klimawandel bedroht sind. Lams Arbeit spricht für alle, die sich ihren Weg durch unbekanntes Terrain bahnen, und ist ein Sinnbild für Resilienz im Angesicht des Unbekannten.

Lap-See Lam, 'Tales of the Altersea', Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Foto: Alwin Lay

Bettina Freimann lebt als Kuratorin und Sinologin in Hamburg. Von 2016 bis 2021 war sie Co-Kuratorin bei Âme-Nue, wo sie unter anderem Ausstellungen von Lu Yang, Ye Funa und Sarah Naqvi kuratierte. Derzeit ist sie für die 9. Triennale der Photographie Hamburg tätig.

Aus dem Englischen von Good & Cheap Translators (www.goodandcheaptranslators.com)

1 Leilei Jia, Jing Wang: „On Yingxi (影戏): exploring the origin of Chinese film aesthetics“, International Communication of Chinese Culture (2022), S. 3.
2 Die Aufstände (1794-1804) wurden von der Weißen Lotus-Bewegung angeführt, einer geheimen buddhistischen religiösen Gruppe, die gegen Steuererhöhungen in den Provinzen Sichuan, Hubei und Shaanxi protestierte und zu einer ernsthaften Bedrohung für die untergehende Mandschu-Dynastie wurde.
3 „Altersea“ ist ein fiktiver Begriff für die Region Südostasien. Er wurde von einer Gruppe von Akademiker*innen und Aktivist*innen erfunden, die die Altersea-Konferenz ins Leben gerufen haben.
4 Der Taoismus ist eine der fünf Hauptreligionen, die von der Volksrepublik China zur Bewahrung des kulturellen Erbes der alten Zeit niedergeschrieben wurden: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus, Islam und Protestantismus/Katholizismus.
5 Zi Zhuang, The Complete Works of Chuang Tzu (Columbia University Press: 1968), Übers. Burton Watson, S. 29–31. „Li“ (里) ist eine traditionelle chinesische Entfernungseinheit mit einer standardisierten Länge von 500 m oder 0,311 Meilen.
6 Siehe Liu Xun, Records of the Unusualness in Lingnan (Lingbiao Lu Yi, 嶺表異錄), Tang Dynasty (618–907).
7 Der Große Sprung nach vorn war eine Initiative Mao Zedongs, mit der das Land von einem Agrar- in einen Industriestaat umgewandelt werden sollte. Die Zahl der Todesopfer war aufgrund der strikten Informationspolitik bis in die 1980er Jahre unbekannt und schwankt heute vage zwischen 15 und 55 Millionen. Während studentische Demonstrant*innen im Westen noch die Mao-Bibel hochhielten, waren bereits Millionen durch dessen Politik getötet worden. Die Kulturrevolution (1966 bis 1976) war eine landesweite Kampagne gegen konterrevolutionäres Gedankengut und führte zu einer weiteren Hungersnot, die 30 Millionen Menschen das Leben kostete.

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