17.10.–22.11.1992
Wandtafelzeichnungen zu Vorträgen 1919-1924
Nach der Ausstellung von Otto Muehl im Frühsommer dieses Jahres unternimmt es der Portikus Frankfurt nun zum zweiten Mal, eine ausschließlich historische Ausstellung zu präsentieren. Dies mag ungewöhnlich erscheinen, ist doch der Schuhkarton Portikus gerade durch seinen Werkstattcharakter und die Inszenierung von neuesten Strömungen der Gegenwartskunst bekannt geworden. Tatsächlich besteht entgegen aller Unkenrufe nach wie vor kein Mangel an interessanten und wichtigen Positionen in der gegenwärtigen Kunstszene. Wenn wir dennoch hin und wieder gezielt auf historisches Material zurückgreifen, so geschieht das vor allem in der Absicht, das visuelle Gedächtnis der Künstler wie der Rezipienten in Bewegung zu halten: den Blick auf Arbeiten zu lenken, die für die aktuelle Auseinandersetzung mit Kunst fruchtbar und belangvoll sein können.
Es ist hier nicht der Ort, das umfassende philosophische, literarische und künstlerische Werk des Anthroposophen und Begründers der Waldorfschulen, Rudolf Steiner (1861-1925) vorzustellen. Wenig bekannt ist, daß er die mehr als 5000 frei gehaltenen Vorträge, die er im Laufe seiner vielfältigen Tätigkeit absolvierte, in Form von Tafelzeichnungen komplettierte. Er benutzte die Tafel häufig, mal, um einen Begriff, eine Jahreszahl hervorzuheben, mal, um eine komplexe Vorstellung anhand eines Schemas aufzuschlüsseln und imaginativ aufzubauen. Oft wurden zunächst schlicht angelegte Skizzen oder Schemata im Laufe der Rede immer weiter ausgestaltet, so daß schließlich ein „imaginativ, farbig fließendes Gesamtbild" (Assja Turgenieff) entstand, das unmittelbar anschaulich erlebt werden konnte. Die meisten Tafelzeichnungen wurden nach den Vorträgen ausgelöscht, bis schließlich eine aufmerksame Zuhörerin, Emma Stolle, veranlaßte, daß die jeweils bereitgestellte Tafel mit schwarzem Papier bespannt wurde. Auf diese Art sind uns insgesamt doch 1100 Zeichnungen im Tafelformat (ca. 100 x 150 cm) erhalten geblieben. Erst 1989 begann die Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung damit, die ersten Bände der Zeichnungen im Rahmen der Steiner-Gesamtausgabe zu publizieren und damit einen Schatz zu heben, dessen Tragweite sich erst noch erweisen wird. Nicht von ungefähr haben zwei ehemalige Studenten der Beuys-Klasse, Walter Dahn und Johannes Stüttgen, entscheidend dazu beigetragen, einen kleinen Teil der Wandtafelzeichnungen Steiners zum ersten Mal öffentlich zugänglich zu machen, wie dies in diesem Sommer in der Galerie Monika Sprüth, Köln, geschehen ist.
Die Ausstellung im Portikus wird nun in erweiteter Form etwa 40 Tafelzeichnungen präsentieren und diese mit wichtigem historischen Material ergänzen. Dabei geht es zum einen darum, die Tafeln in ihrer visuellen Selbstevidenz erfahrbar zu machen und damit den Dialog mit etablierter und kontemporärer Kunst zu eröffnen. Zum anderen soll sich zeigen, inwieweit die den Zeichnungen thematische Einheit von Mensch und Natur, von Kunst, Wissenschaft und Religion für unsere gegenwärtige Weltsicht virulent sein kann.
Die Ausstellung wird von drei wissenschaftlichen Vorträgen begleitet (Dr. Walter Kugler, Dornach, Prof. Dr. Hartmut Böhme, Universität Hamburg und Prof. Dr. Michael Bockemühl, Universität Witten-Herdecke), die diese Komplexe vertiefen sollen.
Fotos: Katrin Schilling