08.03.–18.05.2025

Eröffnung: 07.03.2025, 18h

 

Einige Fragmente werden akribisch aufbewahrt, während andere dem Zerfall überlassen werden. An bestimmten Geschichten wird festgehalten, während andere in Vergessenheit geraten. Durch die Freilegung und Rekontextualisierung von Mikro-Narrativen untersucht Julian Irlinger in seiner Praxis die Mechanismen der Erinnerung und Vermittlung der Geschichte. Ausgehend von Archivmaterialien, Readymade-Objekten und historischen Ästhetiken hinterfragt er in seiner künstlerischen Arbeit—die sowohl Zeichnungen und Fotografien als auch Filme und Skulpturen umfasst—vorherrschende historische Narrative und ihre kulturellen Repräsentationen sowie die Ideologien, durch die sie hervorgebracht werden.

 

Mit The Curtain of Time (2025) präsentiert Irlinger im Hauptraum des Portikus einen eigens für die Ausstellung in Auftrag gegebenen Film, eingebettet in eine Installation, die an eine Bürokabine erinnert. Angelehnt an die Länge traditioneller Kurzfilm-Animationen, die früher den Hauptfilmen im Kino vorangingen, greift der Künstler in seinem Video die charakteristische Trickfilm-Ästhetik der Mitte des letzten Jahrhunderts auf: Das Werk bedient sich der Technik der „Cel-Animation“, bei der einzelne Motive mit Tinte auf transparenten Zelluloidfolien gezeichnet, eingefärbt, anschließend abfotografiert und zu Sequenzen zusammengestellt werden, um auf der Leinwand die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Irlingers Arbeit ist von der Bildsprache der renommierten Studios von UPA (United Productions of America) und der Zagreb School of Animated Film inspiriert. Charakteristisch für ihren Animationsstil war eine radikale Ökonomie der Form—vereinfachte geometrische Figuren, flache Farbfelder, räumliche Abstraktion und sich ständig wiederholende Bewegungen—wodurch sie sich ästhetisch stark von dem feingliedrigen Realismus und Animismus von Zeitgenoss*innen wie Walt Disney unterschieden, den sie ablehnten. Stattdessen ließen die Künstler*innen der Limited Animation-Bewegung sich vom Bauhaus, Kubismus, Expressionismus und Surrealismus beeinflussen und trugen so zu einer Neudefinition des Mediums bei. Obwohl diese Studios für ihre experimentellen Ansätze weitläufig gefeiert wurden, agierten sie auch innerhalb eines ideologischen und propagandistischen Apparats und produzierten Filme, die nicht nur der Unterhaltung dienten, sondern auch als Instrumente der Politik, der Industrie und des Militärs fungierten.

 

So wie die Geschichte des Kinos eng mit politischen Interessen verwoben ist, gilt dies auch für die Stadtplanung. Jedes Stadtbild wird durch Entscheidungen geformt—von der Straßenführung zu den für Autos vorgesehenen Flächen bis hin zu den Bauwerken, die die Umgebung charakterisieren. In The Curtain of Time (2025) nimmt uns Irlinger mit auf eine 11-minütige Reise durch den Alltag in einem Architekturbüro, die sich in einer einzigen fortlaufenden Sequenz abspielt: Ein Telefon klingelt, aber niemand nimmt ab, denn die Belegschaft schläft—schlummert auf ihren Schreibtischen oder wandelt im Schlaf.

 

Da die Handlung kaum von den Protagonisten getragen wird, ist es das Interieur, das Bände spricht: Ein Kleiderständer erinnert an die verspielten Linien in den Werken Joan Mirós, während ein gesprenkelter Paravent auf Jackson Pollocks abstrakten Expressionismus verweist. Diese subtilen Anspielungen verdeutlichen die Verstrickungen beider Künstler mit der Politik des 20. Jahrhunderts: der eine geprägt von der Unterdrückung durch die Franco-Diktatur, der andere instrumentalisiert für ein geheimes CIA-Propaganda Programm, das während des Kalten Krieges die amerikanische Moderne zum Symbol der Meinungsfreiheit deklarierte, entgegen dem starren, staatlich kontrollierten sozialistischen Realismus der Sowjetunion. An anderer Stelle in Irlingers Film werden Modelle von ikonischen Gebäuden der Moderne, wie Frank Lloyd Wrights Guggenheim und Le Corbusiers Villa Savoye, in den Mülleimer geworfen. Stattdessen sind nun die Zeichentische der Architekt*innen mit Entwürfen von Fachwerkhäusern übersät, deren traditionelles Design auf eine neu entfachte Faszination für die Rekonstruktionsarchitektur in Deutschland hinweist. Die in volkstümlicher Tradition stehenden Bauten deuten auf eine Abkehr von den Idealen der Moderne hin und spiegeln einen breiteren kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte wider.

 

Konzeptuell gerahmt wird Irlingers Film von der gesellschaftspolitischen Wertedebatte um den Wiederaufbau historischer Gebäude, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Während manche in dieser architektonischen Entwicklung ein Mittel zum Erhalt der nationalen Identität sehen, halten andere sie für eine nostalgisch verklärte Revision der Vergangenheit, durch die versucht wird, Narben und Brüche der Geschichte zu verschleiern. Im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach zukunftsweisenden Idealen und der Faszination für eine glorifizierte, rekonstruierte Vergangenheit lässt sich die Vision der Stadtplaner in The Curtain of Time (2025) in der Architektur des Portikus wiederfinden—der modernen Interpretation eines traditionellen Fachwerkhauses mit einem überproportionierten Giebeldach—sowie in der Stadt Frankfurt, deren Altstadt restauriert wurde. Das historische Zentrum Frankfurts, das in der Nachkriegszeit aus den Trümmern wieder aufgebaut worden war, erfuhr unlängst durch das Dom-Römer-Projekt (2012-2018) eine weitere Transformation, indem das verschwundene mittelalterliche Stadtbild durch eine Mischung aus historischen Nachbauten und zeitgenössischer Architektur teilweise wiederhergestellt wurde.

 

In einer zentralen Szene in Irlingers Animation liegt ein*e endlich erwachte*r Architekt*in auf der Couch eine*r/s Psychoanalytiker*in/s. Da aber keine Stimme zu hören ist, stellt sich unweigerlich die Frage, wem die Therapiesitzung eigentlich gilt—dem individuellen Subjekt oder dem Kollektiv, das sich durch die neu errichteten Strukturen mit seiner Geschichte zu versöhnen versucht. Das Loop-Format des Videos verstärkt den Eindruck einer Geschichte, gefangen im Wiederholungszwang—einem endlosen Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau, der nicht nur erinnert, sondern auch ständig neu inszeniert wird. Gleich den Architekt*innen, die schlafend an ihren Schreibtischen liegen, schwelt die Last der Vergangenheit in einer Limbus-Welt, in der die Kommerzialisierung der Erinnerung und das Ausbilden einer nationalen Identität nicht nur Stadtbilder, sondern auch das kollektive Unbewusste formt.

 

Müde des fortwährenden Konfliktes zwischen unterschiedlichen generationenspezifischen Perspektiven auf Erinnerungskultur brechen die schlafwandelnden Stadtplaner*innen aus The Curtain of Time (2025) aus dem Portikus aus. Nicht länger an die Leinwand gebunden, erstreckt sich Irlingers Animation bis hin zu den Straßenlaternen der Alten Brücke, an denen bedruckte Banner mit den Silhouetten der Architekturbüro-Angestellten installiert sind. Durch die Bewegung vorbeifahrender Autos und Fußgänger*innen zum Leben erweckt, verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fiktion, was uns wundern lässt, was uns wohl erwartet, wenn wir aus unserem Tiefschlaf erwachen: Welche Geschichte wird wirklich bewahrt und welche wird umgeschrieben?

 

Julian Irlinger (*1986 in Erlangen) ist ein in Berlin lebender Künstler. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen zählen das Wende Museum, Los Angeles (2022), die Galerie Wedding, Berlin (2020), das Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen (2019) und die Kunsthalle Darmstadt (2017). Seine Arbeiten wurden zudem in Ausstellungen im Hamburger Kunstverein (2023), im Dortmunder Kunstverein (2022), in der Kunsthalle Baden-Baden (2018), im Artists Space, New York (2018) und in der Kunsthalle Wien (2016) gezeigt. Irlinger schloss 2017 sein Studium an der Städelschule in Frankfurt am Main ab und war 2017/18 Teilnehmer des Whitney Museum Independent Study Program in New York. Vom 12. April 2025 bis zum 8. Juni 2025 wird er eine Einzelausstellung im Kunstverein Schwerin haben.

 

Kuratiert von Liberty Adrien & Carina Bukuts

 

The Curtain of Time wird ermöglicht durch die großzügige Unterstützung der Dr. Marschner Stiftung.

 

Posterdesign: veryes (Berlin)