09.03.–12.05.2024

Eröffnung: 08.03.2024, 18 h

Ausstellungsbooklet (PDF)

„Ich habe versucht, eine Fiktion zu schaffen, die aus dem Text heraustritt, eine Fiktion, die sich außerhalb des Rahmens bewegt, in dem sich Fiktionen normalerweise bewegen.”
– Philippe Thomas, 1995

Angesichts seines umfangreichen Œuvres verwundert es nicht, dass Philippe Thomas (1951–1995) über die Literatur und Philosophie zur Kunst fand. Geprägt von den poststrukturalistischen Ansätzen, die in den 1960er und 1970er-Jahren in Frankreich aufkamen, widmete sich der Künstler den bis heute noch relevanten Fragen nach der Fluidität von Identität, der Dekonstruktion von Autor*innenschaft, Machtverhältnissen und den Bedingungen, unter denen Bedeutung erzeugt wird. Mittels Schriften, Installationen, Performances und Fotografie hat Thomas die Realität in eine sorgfältig ausgearbeitete Fiktion verwoben, in der sein Name schlussendlich in einem Gefüge aus Beziehungen und Persönlichkeiten verschwand. Seine Praxis, die akribisch Konzepte von Sichtbarkeit, Legitimation und Authentizität auslotete, kann als eine Abfolge von Kapiteln gelesen werden, in denen jedes Werk Teil eines größeren Ensembles ist und zu einer umfassenden Erzählung beiträgt. Die Indizien, Verweise und Verschiebungen, die sein Werk durchdringen, bilden ein unsichtbares Netzwerk von Zusammenhängen, die immerzu Zweifel an der Richtigkeit der präsentierten Fakten aufkommen lassen. Im Zentrum der Ausstellung art history in search of characters… stehen die Aktivitäten von readymades belong to everyone®, einer von Thomas 1987 gegründeten Agentur mit geschütztem Markenzeichen. Diese werden in der Installation l’agence (1993) im Hauptausstellungsraum des Portikus präsentiert, während die untere Ebene zu einem Studienraum umgewandelt wird. Dort ist eine Auswahl an Druck-Erzeugnissen zugänglich, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Werk von Thomas ermöglichen.

Mit einem radikalen Rückgriff auf Marcel Duchamps objet trouvé und Société Anonyme Inc., und initiiert während des Booms der Konsumkultur und des Kunstmarktes, nahm Thomas mit seiner Agentur kritisch Stellung zu den tief verwurzelten kunsthistorischen Konventionen von Autor*innenschaft, Originalität und Authentizität sowie der soziopolitischen und wirtschaftlichen Landschaft des Kapitalismus. Die erste Aktion von readymades belong to everyone® fand 1987 in der Cable Gallery in New York statt, gefolgt von einer weiteren Präsentation in der Pariser Galerie Claire Burrus im Jahr 1988. Ganz im Stil eines seriösen Unternehmens orientierte sich die Agentur nicht nur in ihrem visuellen Vokabular an der Ikonografie von Werbeagenturen, sondern auch in ihrer internationalen Reichweite und ihren Betriebsstrukturen, wie beispielsweise die Kundenakquise durch die Bewerbung ihrer Dienstleistungen in Zeitungen. Die Produkte, die die Agentur verkaufte, waren Kunstwerke und deren Urheberschaft: Ihr Portfolio bestand aus vordefinierten Konzepten, die von Käufer*innen erworben werden konnten, die dem jeweiligen Projekt ihren Namen verleihen wollten. Während Thomas’ eigener Name im Kontext der Agentur weitgehend verborgen blieb, tauchten stattdessen die Namen derer, die es sich leisten konnten, in den Räumen von Galerien und Museen auf. Die Tätigkeit der Agentur richtete so einen kritischen Blick auf die komplexe Abhängigkeit zwischen Künstler*innen, Institutionen und Wirtschaftskreisläufen, während sie zugleich Thomas’ Fiktion in ein Netzwerk realer Personen überführte. Nach sechsjähriger Laufzeit stellte readymades belong to everyone® seine Aktivitäten ein. Angesichts der AIDS-Erkrankung von Thomas zeichnete sich immer deutlicher die Dringlichkeit ab, dieses wichtige Projekt zu beenden, ebenso wie sein Wunsch, sich wieder dem Schreiben zu widmen.

Auf Einladung des Genfer Musée d’art moderne et contemporain (MAMCO) konzipierte readymades belong to everyone® im Jahr 1993 l’agence (die agentur), ein retrospektives Werk, das Spuren ihrer Aktivitäten inszeniert und nun im Portikus zu sehen ist. Für die Ausstellung art history in search of characters… wird die Installation im Hauptausstellungsraum präsentiert, deren Größe nahezu identisch ist mit der Galerie, für die Thomas sie seinerzeit geplant hatte. Der ursprünglichen Präsentation entsprechend ist der Raum in zwei Bereiche geteilt: dem backstage und dem showroom. Während der erste einem Lagerraum gleicht mit Regalen, angehäuften Kartons, einer Pinnwand, einem Stapel Plakate, Werbeanzeigen, Fotos und Verpackungsmaterial, ist letzterer ein White Cube, in dem eine Auswahl von Werken ausgestellt ist, die verschiedene Aspekte von Thomas’ Fiktion hervorheben: Die Betriebsbedingungen der Agentur, die konkrete Produktion von Kunstwerken und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die dabei entstanden sind.

Als Hommage an Philippe Thomas’ sorgfältige Verflechtung von Referenzen, die von der Kunstgeschichte über die Literatur bis hin zu Film und Philosophie reichen, wird die untere Galerie des Portikus in einen Studienraum umfunktioniert, um Besucher*innen zu individuellen Recherchen über den Künstler einzuladen. Die Auswahl an Publikationen, wissenschaftlichen Aufsätzen, Presseausschnitten sowie Ephemera aus vorangegangenen Ausstellungen, in denen sein Werk gezeigt wurde, wurde vom Portikus mit Unterstützung verschiedener Institutionen, Galerien, Archiven, Wissenschaftler*innen, Kolleg*innen und dem Nachlass des Künstlers sorgfältig zusammengestellt.

Indem er sich der Logik der Klassifizierung widersetzte, stellte Thomas die Methoden von Kunstkritik, Museumssammlungen und Archiven grundlegend infrage. In den letzten zehn Jahren hat das wachsende Interesse an seiner idiosynkratischen Praxis ein neues Licht auf sein konzeptionelles Werk geworfen und damit eine kritische Perspektive auf die Bedingungen, unter denen Kunst entsteht und gezeigt wird, geschärft. In einer Zeit, in der Institutionen zunehmend auf den Prüfstand gestellt werden und der Einfluss von Macht und Ökonomie auf künstlerische Praktiken immer offensichtlicher wird, regt Thomas’ Werk dazu an, sich mit der grundlegenden Frage auseinanderzusetzen, was Wahrheit und was konstruierte Realität ist.

Die Arbeiten von Philippe Thomas (*1951 in Nizza, Frankreich – † 1995 in Paris, Frankreich) befassen sich mit einer Reihe von wesentlichen Vorstellungen wie dem Status von Künstler*innen, dem Kunstobjekt, dem Museum als Institution und der Rolle der Betrachter*innen. Zu den jüngsten Einzelausstellungen zählen u.a. MACRO, Rom (2022), Jan Mot, Brüssel (2021, 2017, 2013); Greene Naftali, New York (2017); MAMCO, Genf (2016, 2014); mfc-michèle didier, Paris (2014); Museu d‘Art Contemporani de Barcelona, Barcelona (2000); und Le Magasin, Grenoble (2000). Sein Werk wurde 1992 auf der documenta 9 ausgestellt.

Kuratiert von Liberty Adrien und Carina Bukuts

Posterdesign: HIT Studio

Wir danken dem Musée d'art moderne et contemporain de Genève (MAMCO) für die Leihgabe von l’agence (1993) von readymades belong to everyone®, Lionel Bovier, Claire Burrus, Daphné Charitos, Sophie Costes, Julien Fronsacq, Émeline Jaret, und Jan Mot.

art history in search of characters… wird ermöglicht durch die maßgebliche Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung und dem Städelschule Portikus e.V..