Pressevorbesichtigung: 09.03.2023, 9.30 h
Als in den 2010er Jahren viele chinesische Restaurants in Schweden insolvent gingen oder ihre Besitzer*innen wechselten, darunter auch das von Lap-See Lams Eltern, begann die Künstlerin, möglichst viele davon in 3D zu scannen, um so ihre Geschichte zu bewahren. Die dabei entstandenen fehlerhaften Reproduktionen mündeten in ein vielschichtiges Archiv, das seither ihr visuelles Vokabular prägt. In Lams Werk, das von Skulpturen bis Videoarbeiten reicht, entschlüsselt sie die vieldeutigen Bedeutungsebenen der Chinoiserie und erforscht die kulturelle Transformation der Hong-Kong-Chinesischen Diaspora in Europa. Tales of the Altersea knüpft an die Überlegungen der Künstlerin zum Spannungsfeld zwischen kultureller Zugehörigkeit und Disidentifikation an.
Ausgangspunkt der Ausstellung bildet die eigentümliche Geschichte des Sea Palace, eines dreistöckigen schwimmendes Restaurants in Form eines Drachens, das in den frühen 1990er Jahren von Shanghai nach Europa segelte. Nach dem kommerziellen Misserfolg legte das Schiff in den Gewässern von Stockholm an und fand dort eine neue Bestimmung als Spukhaus im Vergnügungspark Gröna Lund. Die Geschichte des Restaurants und sein emblematisches chinesisches Dekor dienen als Grundlage für Lams Bildsprache und eine neue Gruppe von Werken, die sich vom Außen- bis in den Innenraum erstrecken: Portal (2023), ein Tor auf der Brücke des Portikus, ruft die Ornamente des Sea Palace, die zwei Drachen darstellen, die eine flammende Perle jagen, in Erinnerung, während Dahlia (2023), eine geisterhafte Neonsilhouette, die an der Decke des Eingangs schwebt, die Besucher*in in den Hauptraum führt.
Im Zentrum von Tales of the Altersea steht die gleichnamige 8-Kanal-Videoinstallation, die auf die Wände und den Boden des Ausstellungsraums projiziert wird und den Besucher*innen das Gefühl vermittelt, sich in einer Laterna Magica zu befinden. Die phantomartige Ästhetik der Arbeit geht auf die visuelle Sprache des Schattenspiels zurück, einer traditionellen, eng mit der chinesischen Folklore verbundenen Form des Geschichtenerzählens, die durch imperialistische Handelsbeziehungen nach Europa gelangte. Schauplatz des Werkes ist der Sea Palace, der von Hunger, dem bösen Geist des Stücks, der Schiffe zum Kentern bringt und Kinder verschlingt, auf den Grund des Ozeans versenkt wurde. Das Video beginnt mit zwei aus der Dunkelheit auftauchenden, suchenden Augen, die bald den Protagonistinnen, den Zwillingsschwestern Dahlia und Julie, weichen, die auf eine Europakarte zuschwimmen. Während ihrer Unterwasserreise begegnen die Schwestern einer Reihe von Charakteren, die mit der kantonesischen Mythologie und Geschichte entweder unmittelbar assoziiert oder von ihr inspiriert sind. Auf dem Weg zum Schiffswrack des Sea Palace treffen die Schwestern auf Lo Ting, den Erzähler der Geschichte, ein Mischwesen aus Fisch und Mensch, das als Vorfahre der Menschen in Hongkong gilt. Ihr Weg dahin ist umfriedet von furchteinflößenden Gestalten, wie einem weinenden Kaiser, Monstern und Geistern. Nachdem sie mit dem Berühren der flammenden Perle, deren Licht grün leuchtet, von ihrer Schwester getrennt wird, wird Julie schließlich von Hunger verschluckt und trifft in seinem Magen, der Intestinal Bay, auf den Freedom Swimmer. Lams charakteristisch detaillierte, gleichwohl oft zweideutige Bildersprache, führt eine befreiende Geschichte vor, in welcher das leuchtende Licht der Heldin hilft, in der Dunkelheit zu sehen, den Fluch des Hungers zu brechen und schließlich zu entkommen. Mit ihrem sich fortsetzenden Weg in die Sicherheit lösen sich mit dem Sea Palace auch die Figuren langsam in Fragmente auf: Julie trägt einen Drachenkopf, Dahlia wächst ein Drachenschwanz und der Freedom Swimmer mutiert zu Da Peng, einem riesigen Vogel, von dem es heißt, dass er "den Himmel verhüllt und den Ozean durchstreift". Nachdem die Schwestern endlich wieder vereint sind, erwecken sie den Drachengeist erneut zum Leben, fliehen von dem verfallenden Schiff und fliegen hoch in den Himmel. In ähnlicher Weise wie Schattenspiele von Liedern begleitet werden, schufen die Komponisten Linus Hillborg und Marlena Salonen mit dem Gesang von Bruno Hibombo eine emphatische Musik und Klanglandschaft für Lams Darbietung.
Mithilfe der Erzählstrategien des magischen Realismus verwebt die Künstlerin komplexe Mythologien mit transnationalen Erfahrungen, um das Konzept von kulturellem Erbe sowohl für sich zu beanspruchen als auch grundlegend in Frage zu stellen. Durch die Verschränkung tradierter und zeitgenössischer Techniken verdeutlicht Tales of the Altersea die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks “Generationsverlust”. Einerseits erfasst er, was bei der Übertragung zwischen verschiedenen Medien verloren geht, und andererseits Wissen, das nicht weitergegeben wird – sei es von einer Generation zur nächsten, von einer Kultur zur anderen.
Lap-See Lam (* 1990 in Stockholm, Schweden) ist eine in Stockholm lebende Künstlerin. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören Bonniers Konsthall, Stockholm (2022); Trondheim Kunstmuseum (2021); Moderna Museet Malmö (2018-2019). Ihre Arbeiten wurden in Gruppenausstellungen im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin (2022); GHOST 2565, Bangkok (2022); PinchukArtCentre, Kiew (2021); Performa 19, New York (2019) gezeigt.
Tales of the Altersea wurde vom Portikus, Frankfurt am Main, initiiert und ist kuratiert von Liberty Adrien und Carina Bukuts. Eine zukünftige Fassung wird im Swiss Institute, New York, von Mai bis August 2023 zu sehen sein. Gemeinsam mit Lap-See Lam organisieren Portikus und SI ein öffentliches Programm, bestehend aus Musik, Essen und Gesprächen, das vom 10. bis 28. Mai in Frankfurt und New York stattfindet. Zur Ausstellung im Portikus erscheint eine Künstlerinpublikation.
Ermöglicht wird Tales of the Altersea durch die maßgebliche Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Großzügige Unterstützung erfolgt von der Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung für Kunst und Kulturpflege. Weitere Unterstützung kommt vom Swedish Arts Grants Committee, Eidotech und Expolan Weimer. Der Galerie Nordenhake, Stockholm/Berlin/Mexiko Stadt, ist der Portikus ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. In Zusammenarbeit mit der Schwedischen Botschaft Berlin.
Im Kontext der Ausstellung Lap-See Lam – Tales of the Altersea findet folgendes Begleitprogramm statt:
16 April 2023, 14–18h: Dim Sum Kochkurs mit lonelypommes.kitchen* (ausgebucht)
14 Mai 2023, 14–18h: Dim Sum Kochkurs mit lonelypommes.kitchen* (ausgebucht)
28 Mai 2023, 18h: Tales of the Alteresa Konzert – Mit den Komponist*innen Linus Hillborg und Marlena Salonen und Sänger Bruno Hibombo
*Begrenzte Platzkapazität, bitte anmelden unter info@portikus.de
Posterdesign: Thomas Bush
Installationsansichten: Alwin Lay