10.05.–29.06.2014

Der Portikus präsentiert das Werk des britischen Konzeptkünstlers John Latham (1921–2006) und eine neue Arbeit des Künstlers und Kunstprofessors Neal White. Durch den Dialog, der sich aus der Gegenüberstellung dieser beiden Positionen entwickelt, lässt sich nicht nur das umfangreiche und überaus komplexe Oeuvre von John Latham entschlüsseln, sondern auch verdeutlichen, wie sich die historische Rolle der Konzeptkunst zum „Event“ als struktureller Einheit verhält.

John Lathams Beschäftigung mit der Phänomenologie und dem Thema der Zeit wird hier in der kritischen Arbeit God is Great (#4) von 2005 anschaulich. Sie besteht aus zersplittertem Glas, das als Feld auf dem Boden des Ausstellungsraums ausgebreitet ist und jeweils eine Ausgabe der Bibel, des Koran und des Talmud enthält. Das Glas steht für das „geringste Ereignis“ („least event“). Nach seiner Theorie der Zeit ist dies jener Moment, in dem eine Form, sei sie organisch oder materiell, entweder in ihren Ursprungszustand zurückkehrt oder an einen Ort gelangt, der vor oder nach ihrer eigentlichen Existenz liegt. Latham hat sich sein Leben lang mit dem Verhältnis zwischen Konzepten und den Dimensionen der Zeit beschäftigt und dabei die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen den Glaubenssystemen ebenso in Frage gestellt wie die – wie er es nennt – „verschlossene Dimension“ von Wissenschaft und Sprache sowie die Frage nach Ereignissen und Nicht-Ereignissen. Für ihn galten Kunst und Physik genauso also Glaubenssysteme wie Religion. Sein zentrales Anliegen bestand in der Klärung der Frage, warum die verschiedenen Glaubenssysteme nicht in der Lage sind, das Konzept der Zeit zu begreifen und dadurch friedlich und produktiv nebeneinander existieren und sich weiterentwickeln zu können. God is Great (10-19) bezieht sich auf den Titel der Arbeit von John Latham, die in der Ausstellung zu sehen ist. Darin enthalten ist die modifizierte Formel 1019, die kleinstmögliche Zeiteinheit, die die Wissenschaft zu Lathams Lebzeiten identifizieren konnte. Latham diente der Begriff dazu, die besondere Suche der Wissenschaft nach Gott zu beschreiben.

Im Jahr 2003 lernten sich John Latham und Neal White kennen. Daraus entwickelte sich ein Dialog, der zu Whites Rolle bei O+I führte, einer Organisation, die nach der Artist Placement Group (1966–1989) entstand, einem Künstlerkollektiv, das von Latham und Barbara Steveni gegründet wurde. Nach Lathams Tod im Jahr 2006 kümmerte sich White um den Aufbau des Archivs im Flat Time House, dem ehemaligen Wohnhaus und Atelier von Latham in Südlondon. In seinem fortlaufenden Projekt INFOMOMA, das White in dieser Ausstellung zeigt, bezieht er sich auf Aufzeichnungen aus diesem Archiv, insbesondere auf Lathams Konzept für die Information Ausstellung von 1972 am MoMA, das darin bestand etwas zu entwickeln, „das geringer ausfällt als jede bisher bekannte Menge“.

Das INFOMOMA überführt diese Vorstellung der geringsten bekannten Größe in die Gegenwart, indem White Recherchen im technisch-wissenschaftlichen und dem militärisch-industriellen Bereich vornimmt. Dazu zählt etwa die Arbeit der CTBTO, einer globalen Organisation, die die Durchführung von Atomwaffenexplosionen und die daraus resultierenden Naturkatastrophen wie Erdbeben überwacht. Ein weiteres Untersuchungsfeld ist der durch Algorithmen gesteuerte Handel, der die Märkte und unser Stadtbild gleichermaßen formt. Beide basieren auf dem technologischen und dem wissenschaftlichen Fortschritt und unterliegen rechtlichen und behördlichen Rahmenbedingungen, die ihrerseits in einem Verhältnis zu Ereignissen stehen, die sich im Makro- oder Mikromaßstab abspielen.

John Latham verbrachte einen Großteil seines Lebens damit, seine Kunst als erkenntnistheoretische Untersuchung zu entwickeln, um unser Vertrauen in die Sprache zu erschüttern. In Büchern sah er tote Wissensobjekte, die er in materieller wie in intellektueller Hinsicht ablehnte und heftig kritisierte: Sie galt es zu zerstören. Trotzdem war es ein Buch von Neal White, Ott’s Sneeze, das die beiden erstmals zusammenbrachte. Statt Seitenzahlen finden sich hier Zeitintervalle, und der Text löst sich in Mathematik und Formeln auf. Latham war überzeugt davon, dass Neal White intuitiv verstand, worum es ihm in seiner Zeitbasis-Theorie ging. Aus ihrem Treffen entwickelte sich ein langjähriger Austausch. In vielerlei Hinsicht teilten sie ganz ähnliche Ansichten. Das galt für ihre kritische Haltung über die Rolle der Kunst im Vergleich zur Wissensproduktion und für ihre Vorstellung von zeitlicher Dimension und Ereignisraum.

Weitere Untersuchungen der Ausstellung werden mittels kontinuierlicher Feldforschung und ortsbezogener Experimente durchgeführt, wozu mehrere Aufführungen der Skoob Tower Ceremonies oder Skoobs zählen. Dabei handelt es sich um Büchertürme, die in Frankfurt und Umgebung aufgebaut und langsam abgebrannt werden. Diese Performance hat John Latham seit den 1960er Jahren immer wieder selbst aufgeführt oder nach seinen Anweisungen aufführen lassen. Die Skoobs, die jetzt im Rahmen der Portikus-Ausstellung stattfinden, verdeutlichen, dass zwischen der künstlerischen Praxis und der Theorie beider Künstler Berührungspunkte und Parallelen – etwa im investigativen Ansatz – bestehen. Die unregelmäßig stattfindenden Übertragungen dieser Performances werden durch Field Broadcast ermöglicht, einer zwischengeschalteten Software, die heruntergeladen werden kann, um die nicht vorher angekündigten Events und Nicht-Events von INFOMOMA anzuschauen.

Beide Künstler beziehen sich auf die kulturellen und natürlichen Dimensionen der Zerstörung. Sie arbeiten mittels komplexer nichtlinearer Zeitstrukturen und stellen einen globalen Zusammenhang von Orten und Ereignissen her, durch den die Funktionsweisen organisierter Glaubenssysteme aufgedeckt werden. Dazu zählt auch die Begrenztheit einer Institution, der sie in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht unterliegt. Neal Whites metallene Daten-Palme und ‚Ready-made’ wurde so zerschnitten, dass sie den strukturellen Gegebenheiten des Gebäudes entspricht und demnach zum Teil im Garten des Portikus, zum Teil im Inneren des Ausstellungsraums installiert ist. Damit werden die räumlichen und sonstigen Einschränkungen in ein Interesse am Nichtlinearen verwandelt, das die Zerstörung als produktive höhere Gewalt zu erkennen gibt. Anstatt Objekte zu definieren und festzulegen, wie sie in der Welt existieren sollten, interessiert White sich vielmehr dafür, wie sich Gegenstände – oder Nicht-Gegenstände – als Ereignisse im Raum verhalten.

Aufzeichnungen der Skoob Performances werden auf DVD der zweiten Ausgabe von NOIT beigelegt, einem von Camberwell Press und Flat Time House herausgegebenen Magazin. Der Launch findet am 20. Juni im Portikus statt, begleitet von einer Präsentation von Lisa Le Feuvre, Leiterin der Sculpture Studies im Henry Moore Institute und Redakteurin von NOIT 2. Der Abend beschließt mit der finalen Skoob Performance zur Ausstellung.