04.02.–06.05.2012
kuratiert von Anselm Franke
Die Ausstellung Mengele’s Skull ist um das gleichnamige Buch von Thomas Keenan und Eyal Weizman aufgebaut, und die Arbeiten der Künstlerin und Filmemacherin Hito Steyerl reagieren auf die Thesen dieses Buches. Die Ausstellung präsentiert diese Arbeiten neben Dokumentar- und Quellenmaterial.
Das Buch Mengele’s Skull diskutiert die forensische Identifizierung der 1985 exhumierten Leiche des Nazi-Arztes Joseph Mengele. Die forensische Untersuchung und Identifizierung von Mengeles Überresten läutet eine Wende ein, die zur Ablösung einer ganzen Ära führte, in der Zeugenschaft und Trauma eine zentrale Rolle spielten. Sie läutet eine neue „Ära der Forensik“ ein, in der Gegenstände – wie menschliche Gebeine – als Zeugen vergangener Ereignisse auftreten. Aber wie macht man aus Gebeinen Zeugen? Welche Rolle spielen Technologien wie 3D-Scans und biomedizinische Daten bei der Erstellung forensischer Beweismittel? Was ist die Rolle und die Politik der Bilder?
Im Hauptraum rekonstruiert Hito Steyerls Installation The Kiss mit Hilfe forensischer 3D-Technologie ein Ereignis aus dem Bosnienkrieg. 1993 entführte eine paramilitärische Einheit 20 Passagiere eines Zuges, die nie wieder gesehen wurden. 19 Entführte sind namentlich bekannt; die Identität des 20. – nach Zeugenaussagen ein Schwarzer – konnte bis heute nicht geklärt werden. Wie mehrere Zeugen berichteten, küsste ihn der Anführer der bewaffneten Gruppe, als er ihn abführte – mehr weiß man nicht. The Kiss zeigt nicht das Ereignis, sondern die Abwesenheit verlässlicher Informationen und Daten und letztlich des vermissten Reisenden selbst.
Hito Steyerls Film Leibniz Skull ist ein Zweikanal-Werk über die Gewissheiten und Ungewissheiten forensischer Identifizierungsmethoden. Die obere Galerie ist als Quellenraum konzipiert. Im Mittelpunkt stehen das Buch Mengele’s Skull und die Arbeit der beiden forensischen Anthropologen Richard Helmer und Clyde Snow, die bei der Identifizierung der Überreste Mengeles eine wichtige Rolle gespielt haben. Der gleichnamige Filmvortrag von Eyal Weizman und Thomas Keenan, realisiert von Kerstin Schroedinger, beschreibt die Identifizierung des Schädels. Die Verwendung zeitgenössischen Filmmaterials und die Interviews mit Snow und Helmer stellen den wissenschaftlichen Prozess der Identifizierung in einen breiteren mediatisierten und performativen Kontext. Ein weiterer Film von Paulo Tavares und Eyal Weizman, realisiert von Steffen Krämer, beschäftigt sich mit einem weiteren politischen Beispiel für die Umgestaltung nationaler Politik durch forensische Untersuchungen. Der Film zeigt forensische Anthropologen bei der Untersuchung der Überreste der Opfer eines Völkermords in Guatemala, bei dem im Rahmen einer mit US-Unterstützung 1982-84 durchgeführten, antikommunistischen Kampagne über 100.000 Mayas umkamen und vierhundert indigene Gemeinden völlig zerstört wurden. Außerdem zu sehen sind „dokumentarische Skulpturen“, wie Eyal Weizman sie nennt: dreidimensionale Ausdrucke von Tatort-Aufnahmen, die bei polizeilichen Ermittlungen, bei Gericht und in den Medien eingesetzt werden.
Ermöglicht durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und ERC
Fotos: Helena Schlichting