28.11.2009–17.01.2010
Die Skulpturen der amerikanischen Künstlerin Rachel Harrison sind zugleich autonom und immer Teil eines größeren installativen Ensembles. Oft liegt diesem Ensemble eine bestimmte Idee oder Tendenz zugrunde, der die verschiedenen Objekte auf unterschiedliche Weise folgen. Die Skulpturen sind meist aus diversen Materialien gefertigt - so können sie aus farbig bemalten, sperrigen Material, Podesten und Sockeln in amorphen Ausführungen oder diversen Readymades aus der Konsum- und Warenwelt bestehen. Unendlich viele Variationen sind vorstellbar. Die Oberflächen sind facettenreich bearbeitet und wirken von unterschiedlichen Ansichten aus betrachtet manchmal, als ob sie nicht ein und dieselbe Arbeit wären. Oft wirken die Skulpturen wie maskiert oder eingekleidet und werden durch weitere Medien wie Fotografie und Video sowohl unterbrochen als auch begleitet. Industriell gefertigte und handgemachte Elemente, abstrakte Formen und reale Gegenstände bilden in Rachel Harrisons Werk prekäre, skulpturale Einheiten mit unterschiedlich ausgearbeiteten Seitenansichten. Alle verwendeten Elemente, so etwa die spezifische Bearbeitung des Materials, seine Farbigkeit, die Kombination mit weiteren Objekten, bilden kaleidoskopartige Facetten, die je nach Drehung und Ansicht auftauchen und verschwinden - die niemals fertig, sondern immer im Übergang und im Werden eines sich verändernden Denkprozesses begriffen sind.
Die diversen Artefakte werden neu verflochten, erhalten neue Wertigkeiten und geben Kommentare ab. Sie erzählen von Figuren und Ereignissen aus der jüngeren Kunst- und Kulturgeschichte sowie aus der populären Welt der Medien. Es werden kombinatorische Fährten gelegt, Effekte erzeugt, manchmal lösen sich die Strukturen sogar in privatsprachlichen Verweisen selbst auf oder werden zumindest schwer verständlich. Rachel Harrisons Strategien verunsichern, provozieren, verführen und destabilisieren unser Denken in Repräsentationsmustern, deren Eigendynamik sie souverän nutzt, um sie durch solche dialektischen Umkehrungen sofort wieder zusammenbrechen zu lassen. Hierzu schreibt etwa der amerikanische Autor John Kelsey: "Und wenn Harrisons Skulpturen dermaßen in dieses Chaos von Zeichen und oberflächlichen Effekten verstrickt sind, dann deshalb, weil die Künstlerin den Raum so ernst nimmt: In einer Zeit, in der die Differenz zwischen Raum und Bild zusehends verschwindet und der ehedem geforderte Abstand zwischen Betrachter und Objekt immer durch Kommunikation gefüllt, das heißt besetzt, ist, findet auch die Skulptur Mittel und Wege, die Zahl ihrer Oberflächen zu vermehren und sich zeitlich aufzuspalten. Um unseren heutigen Nicht-Raum wieder in Besitz zu nehmen, gibt sie ihre zeitlose Pose zu Gunsten einer zeitgebundenen auf; man könnte auch sagen, zu Gunsten einer manischen Serie von Erscheinungen." Die finale Entschlüsselung einer verborgenen Wahrheit oder einer Idee wird es bei diesen Erscheinungen niemals wirklich geben. Zwischen Verkleidung und Skulptur gibt es zwar eine Welt, in der Leute wie Jack Smith, Leigh Bowery, Liz Taylor, Al Gore, E.T., die Venus von Milo, Leonardo DiCaprio oder Marilyn Monroe zum Leben erwachen. Es gibt aber auch jede Menge Nippesfiguren, Abbildungen aus Zeitschriften, Bohnen in Dosen, Slim-Fast in Dosen, Honigbären und dergleichen zu sehen und in Kombination zu setzen. Hierbei ist der Betrachter gefordert, denn die Beziehung zwischen Titel und Werk lässt zwar meist mögliche Kurzschlüsse zur Deutung der Arbeit zu, zuletzt erfolgt die Bestimmung jedoch durch den Rezipienten allein. John Kelsey hierzu weiter: "(...) [Die Skulpturen] öffnen immer wieder schwierige Kluften und lassen das Kunstwerk genau dort zu stammeln beginnen, wo die Präsentation und die Kommunikation stattfinden. (...) [So] sorgt Harrison für Verwirrung zwischen der Sphäre der Warenwelt und dem Raum subjektiver Konstruktion."
Die Spannbreite der kunstgeschichtlichen Referenzen ist ebenfalls weit gefasst, so finden sich in Harrisons Werk Verweise auf Arbeiten von Donald Judd, David Smith, Helen Frankenthaler, Eva Hesse, Adrian Piper, Gordon Matta-Clark, Paul McCarthy, Cady Noland, Haim Steinbach und vielen mehr. Dennoch ist es das Medium Pop und populäre Kultur, das die Grundstimmung bestimmt, den Ton mit zuweilen beißendem Humor angibt. So ist auch der Auslöser zu den Arbeiten in der Ausstellung im Portikus ein Artikel, der der Presse, genauer gesagt der New York Times, entnommen ist. In diesem Artikel geht es um einen neuen Trend, der HAYCATION genannt werden könnte und der auch der Ausstellung den Titel gegeben hat. Der Artikel berichtet davon, dass es in Amerika offensichtlich seit einigen Jahren "in" ist, Ferien auf Bauernhöfen zu machen. Was bei uns in Europa gang und gäbe ist, ist dort nur wenig verbreitet und findet neuerdings starken Anklang. Allerdings werden dort bis zu 300 Dollar pro Nacht berechnet, wenn man der täglichen Stadtexistenz entkommen und stattdessen Kühe melken und Heu machen will und den eigenen Kindern anschaulich erklären kann, wo eigentlich das Fleisch herkommt. Rachel Harrison geht es dabei nicht um die Illustration dieses Trends; vielmehr dient das Phänomen einfach als symbolische Rahmenhandlung. Die Idee von der Rückkehr zum "Ursprünglichen" und die Vorstellung, dass man durch verschiedene konträr angelegte Lifestyles ein vollkommeneres Leben erlangen könnte, kursiert in unserer gesamten westlichen zeitgenössischen Welt. So ist es für Harrison nicht ausschlaggebend, diese eine bestimmte Geschichte mit ihrer Installation zu erzählen. Vielmehr will sie darauf hinweisen, dass jeder von uns seine eigenen kulturellen Referenzen mit sich herumträgt; deshalb geht es nicht darum, zu verstehen, worum es geht, sondern darum, die Zeichen zu lesen und in einem größeren, vielleicht auch ästhetischen, referenziellen Rahmen für sich selbst zu deuten.
Wir danken der Hessischen Kulturstiftung für die freundliche Unterstützung.
Kuratiert von: Melanie Ohnemus
Fotos: Katrin Schilling