15.02.–16.03.2003

"Du sitzt in einer Bar. Du holst ein Buch raus, das du gerade gekauft hast, eine Sammlung von Kurzgeschichten. Beim Durchblättern beginnst du einen beliebigen Absatz zu lesen, der eine dunkle Straße in Berlin beschreibt. Eine Frau in einem roten Kleid kommt aus einem Hauseingang auf dich zu.... aber jemand am Nachbartisch erzählt. Er berichtet seinem Freund von einem verschneiten Feld irgendwo in Kanada, von Fußstapfen, die weit in die Ferne führen. Du wendest dich wieder deinem Buch zu und blätterst zu einem anderen Absatz über einen Pianisten in einer großen leeren Wohnung. Er weiß nicht, dass er seine letzte Etude spielt, die Musik zu seinem eigenen Tod. Der Barmann legt eine neue CD ein, ein Lied von David Bowie, und ein Betrunkener beginnt mitzusingen. Das Bild auf dem Fernseher über der Bar zeigt einen Hubschrauber beim Versuch, einige Menschen aus eisigem Wasser zu retten, und in diesem Moment bist du wieder das Kind, das mit seinen Brüdern den Fluß durchquert. Du erinnerst dich wieder an das kalte Wasser, das dir in den Mund spült. Und als du dich von deinen Träumereien befreist, siehst du eine Frau in einer Ecke der Bar. Sie starrt auf ihr Mobiltelefon, ihr Gesicht ist voller Tränen, und ihre Augen sind schwarz von der verwischten Schminke. Du hörst deinen Hund vor der Bar bellen. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Und wie du durch die ruhigen Straßen gehst, läuft eine Frau in einem roten Kleid aus einem Hauseingang direkt auf dich zu."
(Janet Cardiff & George Bures Miller)

Janet Cardiff und George Bures Miller zeigen im Portikus einen neuen Film in einem eigens für den Ausstellungsraum entwickelten Projektionsraum unter dem Titel "The Berlin Files". Schon in frü-heren Arbeiten, wie zum Beispiel "Playhouse", "Muriel Lake Incident" oder "The Paradise Institute", untersuchten Janet Cardiff und George Bures Miller immer wieder die audiovisuelle Wahrnehmung sowie die Illusion des Betrachters. Ihre Filme deuten erzählerische Motive an, während die drei-dimensionale Tonspur, die bislang über Kopfhörer zugänglich war, den Betrachter Teil des Geschehens im Film und aber gleichzeitig Teil des vorgetäuschten Opern- oder Kinosaales werden lassen. Im Portikus wird nun erstmals im Werk von Cardiff und Miller auf die Verwendung von Kopfhörern verzichtet, statt dessen wird der gesamte Raum in einen Ort akustischer und visueller Projektion verwandelt. Es gelingt Cardiff und Miller immer wieder, den Betrachter in eine simulierte Wirklichkeit zu versetzen und parallel dazu, durch akustische Störungen, den Betrachter mit verschie-denen Realitätsebenen zu konfrontieren. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion scheinen sich aufzulösen, und die Wahrnehmung des physischen Raumes in der Ausstellung bzw. des virtuellen Raumes, evoziert durch die Projektion, verschwimmt. In "The Berlin Files" ist es zuerst die vorge-täuschte Präsenz der beiden Künstler in ihrem Atelier, die als primäre Wahrnehmungsebene vorzu-herrschen scheint, doch nach und nach löst sich diese auf, und der Betrachter erforscht an sich selbst, inwieweit er sich von den Bildern und der eigenen Erinnerung transportieren lässt.

Janet Cardiff (*1957) und George Bures Miller (*1960) leben und arbeiten in Berlin und Kanada.

Mit Unterstützung der Botschaft von Kanada und der Kulturstiftung der Deutschen Bank.